Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 6/2012
Kasuistik
Zu prüfen war die Akupunkturbehandlung der seinerzeit 72-jährigen Patientin durch eine Fachärztin für Orthopädie.
Die Anamnese der Patientin wies unter anderem Herzrhythmusstörungen (absolute Arrhythmie bei Vorhofflimmern) unter oraler Antikoagulanzientherapie mit Phenprocoumon (Marcumar®) und chronische Rückenschmerzen bei Osteoporose auf.
Blutuntersuchungen des Hausarztes zur Steuerung der Antikoagulanzientherapie zeigten am 16. April 2010 Quick-Wert = < 8%/INR = > 5,6, am 19. April 2010 Quick-Wert = 23%/INR = 2,7, am 4. Mai und 6. Mai 2010 Quick-Wert = < 8%/INR = > 5,6, am 7. Mai 2010 Quick-Wert = 28%/INR = 2,3 und am 12. Mai 2010 = 22%/INR = 2,8. Der Hausarzt hatte auf die erhobenen Befunde jeweils mit Modifikation der Marcumar®-Dosierungen beziehungsweise Gabe von Konakion® reagiert. Am 14. Mai 2009 behandelte er die Patientin unter der Diagnose einer akuten Bronchitis.
Bei der Orthopädin befand sich die Patientin seit mehreren Jahren wegen orthopädischer Beschwerden in wiederholter Behandlung. Bei chronischen Rückenschmerzen kam es dort am 27. April 2010 zu einer weiteren Vorstellung. Eine Facetteninjektion L5/S1 „mit Lipo und Meaverin“ wurde durchgeführt und die weitere Behandlung mit Akupunktur empfohlen. In der Karteikartendokumentation findet sich folgender Eintrag: „Patient fragt, ob unter Marcumar® Akupunktur möglich ist. Aufgeklärt, Marcumar® keine Kontraindikation, bei therapeutischen Quick-Werten keine Gefahr. Leichte Blutungen oder Infektionen unter Akupunktur können entstehen“.
Am 4. Mai (INR an diesem Tag > 5,6), 10. Mai, 14. Mai., 17. Mai, 19. Mai und 26. Mai 2010 wurden insgesamt sechs Akupunkturbehandlungen durchgeführt
Am 30. Mai 2010 (Sonntag) suchte die Patientin die Notdienst-Ambulanz der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) wegen verstärkter Rückenschmerzen auf. Die körperliche Untersuchung zeigte ausgedehnte Hämatome rechts paravertebral im Bereich der Lendenwirbelsäule. Nachdem sich die Schmerzsymptomatik unter der verordneten Medikation nicht besserte, kam es noch am gleichen Tag in den späten Abendstunden zur Alarmierung des Rettungsdienstes und zur stationären Aufnahme in eine Klinik für Unfallchirurgie. Der Notfallbericht dokumentierte zur Anamnese „Stellt sich mit starken Rückenschmerzen vor ohne Unfallereignis“ und zum körperlichen Untersuchungsbefund „Einblutungen im Steißbereich lumbosakraler Übergang, rechte Flanke sowie oberflächlich rechtes Schulterblatt dorsal“. Bei Hb = 10,2 g/dl wurde Quick-Wert = 7%/INR = 9,5 bestimmt. Die Ultraschalldiagnostik zeigte im Steißbeinbereich eine subcutane Einblutung Größe 2,4 mal 3,0 cm. Während des stationären Aufenthaltes bis 4. Juni 2010 erfolgten eine analgetische Therapie und zusätzlich krankengymnastische Übungsbehandlungen zur Mobilisierung. Die Patientin wurde in stabilem Allgemeinzustand bei subjektiv weitgehender Beschwerdefreiheit in eine Kurzzeitpflegeeinrichtung verlegt.
Die Patientin beanstandet, dass die Orthopädin bei der Durchführung der Akupunktur die Einnahme gerinnungshemmender Medikamente (Marcumar®) als Kontraindikation nicht beachtet habe. Dadurch sei es zu den ausgedehnten Hämatomen im Rückenbereich gekommen, die den stationären Aufenthalt und den anschließenden Aufenthalt in einer Kurzzeitpflegeeinrichtung erforderlich gemacht hätten. Über das Risiko von Blutungsereignissen durch Akupunktur sei nicht aufgeklärt worden.
Die Orthopädin trägt vor, der Patientin sei auf ihre diesbezüglichen Fragen erklärt worden, dass eine Marcumar®-Therapie keine Kontraindikation darstelle und unter therapeutischen Quick-Werten keine ernsthaften Blutungen zu erwarten seien.
Entscheidung der Schlichtungsstelle
Grundsätzlich ist festzustellen, dass Blutungskomplikationen zu den häufigen und unerwünschten Wirkungen der oralen Antikoagulanzientherapie mit Vitamin K-Antagonisten vom Typ des Phenprocoumons (z.B. Marcumar®) zählen. Die Intensität der Gerinnungshemmung ist durch Laboruntersuchungen des Blutes messbar und entsprechende Kontrollen dienen der Dosierung des Medikaments, die streng individualisiert erfolgen muss. Der sogenannte therapeutische Bereich für die gängigen Indikationen ist INR (international normalized ratio) = 2,0 – 3,0, bei der ein optimales Verhältnis zwischen erwünschten (zum Beispiel Vermeidung kardiogener Embolien bei Herzrhythmusstörungen) und unerwünschten Wirkungen/Nebenwirkungen ermittelt wurde. Höhere INR-Werte signalisieren ein zunehmendes Blutungsrisiko. Im Rahmen der Langzeittherapie werden unerwartete beziehungsweise nicht vorhersehbare Anstiege des INR-Werts immer wieder beobachtet und können zum Beispiel Folge abnehmenden Phenprocoumon-Bedarfs als Hinweis auf eine kardiale Dekompensation sein. Auch interkurrente Erkrankungen (zum Beispiel akute Bronchitis, wie im vorliegenden Fall) können Quick-Wert/INR beeinflussen.
Die Akupunktur ist grundsätzlich eine akzeptierte Behandlungsoption für Patienten mit chronischen Rückenschmerzen. Unter Berücksichtigung der ab März 2010 bei dem Hausarzt durchgeführten Quick-Werte/INR-Kontrolluntersuchungen der Antikoagulanzientherapie war zu Beginn der Akupunkturbehandlung am 04. Mai 2010 nicht davon auszugehen, dass eine stabile Einstellung hinsichtlich der Intensität der Antikoagulation vorlag. Unerwartete beziehungsweise nicht vorhersehbare Änderungen des INR waren jederzeit möglich. Eine Akupunktur war in der vorgegeben instabilen Situation kontraindiziert und deren Durchführung fehlerhaft. Bei korrektem Vorgehen hätte die Akupunktur erst unter den Bedingungen einer stabilen Einstellung der oralen Antikoagulation durchgeführt werden dürfen.
Im vorliegenden Fall bestand kein Zweifel daran, dass die ausgedehnten Hämatome durch die Behandlungen der Rückenschmerzen mit Akupunktur verursacht wurden, andere Ursachen waren hierfür nach Lage der Akten nicht ernsthaft in Betracht zu ziehen. Das Ausmaß der Gewebeeinblutungen wurde durch die orale Antikoagulantientherapie verstärkt. Zu Beginn der Akupunktur am 4. Mai 2009 signalisierte der an diesem Tag bei dem Hausarzt bestimmte Quick-Wert = < 8%/INR = > 5,6 eine Intensität der Antikoagulation außerhalb des therapeutischen Bereichs mit erhöhtem Blutungsrisiko. Nachdem am 7. Mai 2009 INR = 2,3 und am 12. Mai 2009 INR = 2,8 bestimmt worden waren, ist es bis 30. Mai 2009 zu einem weiteren Anstieg auf INR = 9,5 gekommen.
Durch die zu diesem Zeitpunkt kontraindizierte Akupunktur ist es zu den ausgedehnten Hämatomen im Bereich der Rückenmuskulatur gekommen, die wiederum zum einwöchigen stationären Aufenthalt in der Klinik für Unfallchirurgie und anschließend in der Kurzzeitpflege führten.
Die Schlichtungsstelle hielt Schadensersatzansprüche in diesem Rahmen für begründet.
Die Argumentation der Orthopädin, die erhobenen Ansprüche seien unbegründet, denn die Patientin sei schließlich über das Risiko von Blutungen informiert worden, greift nicht. Der Aufklärung unterliegt lediglich das allgemeine Risiko, das mit einer kunst- und sachgerecht ausgeführten ärztlichen Behandlung verbunden ist. Kontraindikationen können nicht durch Aufklärung „überwunden“ werden.