Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Akuter Myokardinfarkt – wenn der Rückenschmerz in die Irre leitet

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 12/2013

Kasuistik

Die 49-jährige Patientin stellte sich am frühen Vormittag in der Praxis eines Facharztes (FA) für Allgemeinmedizin vor. Zwischen den Beteiligten ist streitig, welche Symptome an diesem Tag vorlagen und von der Patientin mitgeteilt wurden. Nach Schilderung der Patientin klagte sie über starke Schmerzen der linken Schulter, Druckgefühl in der Brust, Taubheitsgefühl im linken Arm, Atemnot, Schweißausbrüche und Übelkeit. Der Arzt schildert, dass die Patientin über erhebliche Beschwerden im Nacken- und Schulterbereich berichtet hätte. Es seien keine Thoraxschmerzen beklagt worden. Die Patientin hätte sich mit einem Hypertonus und einer Tachykardie vorgestellt. Aus der Dokumentation war unteranderem zu entnehmen: RR 120/80, Myogelose HWS/BWS, pv i.m., Ø Rp, als Diagnose wurde unter anderem vermerkt: M54.2 … . Der Arzt maß den Blutdruck und stellte aufgrund einer körperlichen Untersuchung die Diagnose eines Hartspanns der Nackenmuskulatur und des gesamten Schultergürtels. Er veranlasste eine paravertebrale Injektion (Meaverin 1 Prozent) und eine intramuskuläre Injektion mit Diclofenac. Ein EKG wurde nicht angefertigt. Ein bis zwei Stunden später kam es in einem Parkhaus zu einem Kollaps, woraufhin ein notarztbegleiteter Transport ins Krankenhaus veranlasst wurde. Hier wurde die Diagnose eines akuten Vorderwandinfarktes gestellt, eine Herzkatheteruntersuchung vorgenommen und der vordere absteigende Koronarast mit zwei Stents versorgt. Die während des stationären Aufenthaltes durchgeführte Echokardiografie zeigte eine umschriebene Minderbeweglichkeit eines dem Infarktareal entsprechenden Herzbereichs ohne Auswirkungen auf die globale Funktion des linken Ventrikels.

Im weiteren Verlauf suchte die Patientin trotz unauffälliger postinterventioneller Befunde wegen der Befürchtung eines neuen akuten Koronarsyndroms und wegen damit verbundener Ängste mehrfachen ärztlichen Rat.

Die Patientin beanstandet, dass die Untersuchung in der Praxis des Allgemeinmediziners unzureichend gewesen sei. Bei korrektem Vorgehen hätte die Diagnose eines akuten Myokardinfarkts gestellt und eine umgehende stationäre Einweisung veranlasst werden müssen.

Der Arzt argumentiert, kardiale Beschwerden oder Thoraxschmerzen seien nicht geklagt worden. Die Beschwerdesymptomatik sei durch die festgestellten Myogelosen im Nacken- und Schulterbereich gut erklärt gewesen. Da eine kardiale Symptomatik nicht vorgelegen hätte, habe auch nicht die Notwendigkeit zur Registrierung eines EKG bestanden.

Gutachten

Die Dokumentation des Arztes belege, dass wichtige differenzialdiagnostische Überlegungen aufgrund der Anamnesedaten entweder nicht erfolgt seien oder nicht dokumentiert wurden. Der Dokumentation sei nicht zu entnehmen, dass Anamnesedaten erfragt wurden. Es seien ausschließlich rudimentäre Befunderhebungsdaten notiert worden. Gemäß den Angaben in der Aufnahmedokumentation der Klinik, die am gleichen Tage knapp drei Stunden nach Vorstellung in der Praxis erstellt wurde, hätte die Patientin über Belastungsangina seit einer Woche, Rückenschmerzen in der vorhergehenden Nacht und linksthorakale Schmerzen seit dem Morgen des Aufstehens berichtet.

Aufgrund der vorhandenen Konstellation von atherogenen Risikofaktoren (langjähriger Nikotinabusus und erhöhter Blutdruck) hätte trotz der beobachteten orthopädischen Befunde an die Möglichkeit eines akuten Koronar-Herz-Syndroms gedacht werden müssen. Die in der Krankenakte aufzufindenden spärlichen Notizen über Vorgeschichte und Untersuchungsbefund seien als Hinweis darauf zu werten, dass eine exakte Anamnese und gründliche körperliche Untersuchung nicht erfolgt seien.

Die klinische Manifestation des Herzinfarktes bei Frauen unterscheide sich bekanntermaßen von der klassischen Infarktsymptomatik des Mannes mit retrosternalen, nach links ausstrahlenden Brustschmerzen unter Beteiligung des linken Arms. Die klinische Symptomatik könne sich bei Frauen vielschichtig darstellen. Daher sei in jedem Zweifelsfalle vor Annahme sonstiger Erkrankungen die schwerwiegende Erkrankung eines akuten Myokardinfarkts auszuschließen. Dies gelte im besonderen Maße bei Vorhandensein eines oder mehrerer Risikofaktoren. Bei der Patientin hätten mit bekanntem massiven Nikotinabusus und mit erst kurz bekanntem arteriellen Hypertonus zwei relevante Risikofaktoren vorgelegen. In einer derartigen Konstellation sei bei Angabe eines Rückenschmerzes immer auch an das Vorliegen einer kardialen Symptomatik zu denken und diese vor weiteren Maßnahmen auszuschließen. Dies sei mittels eines Ruhe-EKG sowie eines Troponin-T-Tests möglich. Beide Maßnahmen könnten in haus- wie fachärztlicher internistischer Praxis problemlos durchgeführt werden.

In Anbetracht der bei der stationären Aufnahme festzustellenden Befundkonstellation mit bereits erhöhtem Troponin-T sei davon auszugehen, dass der Myokardinfarkt bereits bei der Konsultation in der Praxis vorgelegen habe.

Bei korrektem Vorgehen wäre in der Praxis ein EKG registriert und die Diagnose des akuten Vorderwandinfarktes gestellt worden. Dies hätte zu einer zwei bis drei Stunden früheren stationären Aufnahme und früheren Durchführung der Herzkatheteruntersuchung und Rekanalisation geführt. Da die Herzmuskelfunktion durch den Infarkt nicht messbar vermindert worden sei, habe die verspätete Diagnostik nicht mit hinreichender Sicherheit zu einem dauerhaft schlechteren postinterventionellen Ergebnis als bei richtigem ärztlichem Handeln geführt.

Allerdings seien bezüglich der Versorgung der akuten Krankheit durch die eingetretene Verzögerung Nachteile aufgetreten, da es zu einem Kollapszustand im Parkhaus, das heißt im öffentlichen Bereich, kam, der zu einem notfallmäßigen Transport ins Krankenhaus führte. Dieser Verlauf habe bei der Patientin zu einer deutlichen psychischen Belastung geführt. Entsprechende Hinweise würden sich aus der Dokumentation des nachbehandelnden Internisten entnehmen lassen.

Entscheidung der Schlichtungsstelle

Die fehlende Dokumentation über anamnestische Daten und klinischen Untersuchungsbefund ist als Hinweis dafür zu werten, dass eine differenzierte Anamnese unter Einschluss einer möglichen kardialen Beschwerdeursache und eine diesbezügliche körperliche Untersuchung nicht erfolgt sind. In Anbetracht der Risikofaktorenkonstellation sowie der Häufigkeit und Gefährlichkeit des akuten Koronarsyndroms hätte trotz Vorliegens von Myogelosen an die Möglichkeit eines Herzinfarktes gedacht werden müssen. Bei allen unklaren Beschwerden im Brust-, Hals-, Oberbauch- und Armbereich (insbesondere links) ist differenzialdiagnostisch an die potenziell bedrohlichste Ursache eines akuten oder drohenden Herzinfarkts zu denken, da diese Gesundheitsstörung mit einer akuten Lebensgefahr verbunden ist. Dies wurde fehlerhaft versäumt.

Hierdurch verzögerte sich die stationäre Aufnahme um knapp drei Stunden, wobei es glücklicherweise im Zusammenhang mit dem Kollapszustand und dem darauffolgenden notarztbegleiteten Transport in die Klinik nicht zu lebensbedrohlichen Komplikationen kam. Im Rahmen der umgehend durchgeführten Herzkatheteruntersuchung konnten erfolgreich zwei Stents implantiert und ein größerer Herzinfarkt verhindert werden. Die im weiteren Verlauf angefertigten Echokardiografien zeigten eine normale Globalfunktion bei geringer Wandbewegungsstörung im Bereich der Vorderwand. Hinsichtlich der linksventrikulären Funktion ist es somit nicht zu einem durch die verspätete Einweisung verursachten Schaden gekommen.

Bei korrektem Vorgehen wäre die stationäre Einweisung knapp drei Stunden früher erfolgt und der Kollaps im Parkhaus und der notfallmäßige Transport in die Klinik vermieden worden. Durch dieses Ereignis ist es bei der Patientin zu einer psychischen Belastungssituation gekommen, die als Schaden zu konstatieren ist.

Fazit

Eine vernünftige Therapie erfordert grundsätzlich eine vorangehende sichere diagnostische Festlegung. Wenn Symptome – wenn auch vielleicht mit unterschiedlichem Wahrscheinlichkeitsgrad – auf mehrere verschiedene Krankheiten hindeuten, so ist durch weitere differenzial-diagnostische Maßnahmen Aufschluss über die konkret vorliegende Erkrankung zu suchen. Davon unabhängig gilt stets: Zur guten Behandlung gehört auch eine gute Dokumentation.

Autoren:

JN

Dr. Johann Neu, Rechtsanwalt

ehemaliger Geschäftsführer der Schlichtungsstelle
für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammern
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover