Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Alleinige Abtragung der Pseudoexostose ein historisches Verfahren bei Hallux valgus- und Hammerzehen-Korrektur D IV

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt März 2016

Kasuistik

Bei einer Patientin wurde am rechten Fuß bei Hallux valgus und Hammerzehe D IV durch einen Chirurgen eine Abtragung der Pseudoexostose am 1. Mittelfußkopf und eine Geradstellung der Hammerzehe D IV durch Resektion des Grundphalanxköpfchens vorgenommen. Der postoperative Verlauf war durch eine apikale Durchblutungsstörung der 1. und 4. Zehe mit Schwellneigung besonders der 4. Zehe im Rahmen einer primär-chronischen Arthritis bestimmt. Der Hallux valgus verblieb unverändert, die 4. Zehe verlagerte sich anteilig über die 3. Zehe.

Beanstandung der ärztlichen Maßnahmen

Die Operation sei fehlerhaft durchgeführt worden, da der Ballen an der Großzehe erhalten geblieben sei und die 4. Zehe zum Teil auf der 3. Zehe liege, weil kein stabilisierender Draht eingesetzt worden sei. Es bestünden Dauerschmerzen und ein normaler Schuh könne kaum getragen werden. Die Aufklärung über Risiken sei nicht ausreichend gewesen.

Stellungnahme des Arztes

Der Arzt entgegnet, die Patientin habe sich mit Beschwerden an einer ausgeprägten Exostose, verbunden mit einer chronischen Bursitis über dem Großzehengrundgelenk rechts, vorgestellt. Außerdem habe eine typische Hammerzehenfehlbildung der 4. Zehe rechts bestanden. Er habe bei der noch nicht sehr ausgeprägten Hallux-Fehlstellung lediglich die Abtragung der schmerzhaften Exostose und die Beseitigung der Fehlstellung des 4. Zehs empfohlen. Auf die Stabilisierung der 4. Zehe durch einen Bohrdraht nach Hammerzehenkorrektur habe er bewusst verzichtet, da die Ergebnisse ohne Stabilisierung nicht schlechter seien als mit einer Drahtstabilisierung. Über den weiteren Verlauf könne er keine Aussagen treffen, da sich die Patientin nicht mehr vorgestellt habe.

Gutachten

Der beauftragte Gutachter, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, hat nach Darstellung des Sachverhalts ausgeführt, dass die Indikation zur Hallux valgus- und Hammerzehen-Korrektur D IV rechts bei entsprechender Beschwerdesymptomatik und ausgereizter konservativer Therapie bestanden habe. Die Operation sei, bezogen auf den Hallux valgus rechts, nicht dem medizinischen Standard entsprechend durchgeführt worden. Die alleinige Abtragung der Pseudoexostose als Folge des Hallux valgus beseitige nicht die Ursache. Zumindest hätte über eine distale metatarsale Verschiebe-Osteotomie nachgedacht werden können, im Verbund mit lösenden und straffenden Maßnahmen an der Grundgelenkkapsel zur Ausgradung der Großzehe. Der verbliebene Hallux valgus spreche für eine fehlerhafte, falsch indizierte Operation. Die erneute Fehlstellung der 4. Zehe könne möglicherweise auch nach einem korrekten Operationsverfahren mit Bohrdrahtstabilisierung eintreten.

Stellungnahmen zum Gutachten

Die Patientin wiederholt in ihrer Stellungnahme zum Gutachten im Wesentlichen ihren Vortrag zum Schlichtungsantrag. Ergänzend teilt sie mit, dass bei jeder Röntgenaufnahme der Fuß unbelastet gewesen sei. Der Chirurg erklärt, dass eine Korrektur des Hallux valgus mit der Patientin nicht besprochen worden sei, sondern lediglich eine Druckentlastung im Bereich des Mittelfußkopfes durch die Bursektomie und Exostosenabtragung. Deshalb könne die verbliebene Hallux valgus-Fehlstellung nicht ihm angelastet werden.

Bewertung der Haftungsfrage

Die Schlichtungsstelle hat sich dem Gutachten angeschlossen. Bei der Patientin wurde durch den Chirurgen am rechten Vorfuß die Pseudoexostose am 1. Mittelfußkopf bei Hallux valgus abgetragen und eine Begradigung der Hammerzehe D IV durch Absetzen des Grundphalanxköpfchens vorgenommen. Die Indikation zu einem operativen Vorgehen war durch die Druckbeschwerden an den Zehen D I und IV im Konfektionsschuh und den im Röntgenbild erkennbaren Hallux valgus gegeben. Die Operation wurde ausweislich des Operationsberichts und der postoperativen Röntgenbilder bezüglich der Großzehe nicht dem medizinischen Standard entsprechend durchgeführt. Messtechnisch bestand auf den präoperativen Röntgenbildern des rechten Fußes ein Hallux valgus-Winkel von 35 Grad und ein Intermetatarsalwinkel von 12 Grad. Da die Röntgenaufnahmen offensichtlich am unbelasteten Fuß durchgeführt wurden, muss ein wesentlich größerer Intermetatarsalwinkel unter Belastung angenommen werden. Wie der Sachverständige in seinem Gutachten ausführt, sei zur Hallux valgus-Korrektur die alleinige Abtragung des tibialen Anteiles des prominenten 1. Metatarsalkopfes eine ungeeignete Methode, da die Pathomechanik, nämlich der Spreizfuß, nicht beseitigt würde und damit der Hallux valgus unverändert bliebe. Die alleinige Abtragung der Pseudoexostose sei deshalb als fehlerhaft anzusehen, da das zu erwartende Rezidiv dabei billigend in Kauf genommen würde.

Die Schlichtungsstelle schloss sich diesen Ausführungen voll inhaltlich an und bestätigt, dass die alleinige Abtragung der Pseudoexostose bei deutlichem Hallux valgus ein historisches Verfahren darstellt und aus pathomechanischen Gründen nicht mehr gebräuchlich ist.

Die Hammerzehe D IV wurde nach Ansicht des Sachverständigen und der Schlichtungsstelle korrekt durch Absetzen des Grundphalanxköpfchens ausgegradet. Zur Stabilisierung dieser Zehe wird üblicherweise ein transartikulär und transmedullär geführter Bohrdraht eingebracht oder alternativ ein Pflasterzügelverband angelegt. Im vorliegenden Fall wurde auf jegliche stabilisierende Maßnahme verzichtet. Da, wie der Sachverständige erläutert, nicht auszuschließen ist, dass auch durch die genannten stabilisierenden Maßnahmen im Verlauf eine erneute Fehlstellung der Zehe resultiert, kann nicht bewiesen werden, dass das Unterlassen der Zehenstabilisierung ursächlich für die patientenseits erlittenen Beeinträchtigungen und Nachteile geworden ist. Dass der weitere komplikationsbelastete Verlauf und der Eintritt der erlittenen Beeinträchtigungen bei korrekter Diagnosestellung und entsprechender Behandlung hätte vermieden werden können (Beweislast patientenseits) – was die Voraussetzung für eine Haftung wäre – könne somit nicht bestätigt werden.

Zusammenfassend kam die Schlichtungsstelle im Einvernehmen mit dem Sachverständigen zu der Feststellung, dass der in Anspruch genommene Chirurg bezüglich der operativen Behandlung des rechtsseitigen Hallux valgus insofern fehlerhaft gehandelt hat, als er lediglich die Pseudoexostose des 1. Mittelfußkopfes abgetragen hat und damit der Pathogenese des Hallux valgus nicht gerecht wurde. Der Chirurg hat in seiner Stellungnahme zum Gutachten darauf hingewiesen, dass er mit der Patientin lediglich die Pseudoexostosenabtragung, nicht aber die Korrektur des Hallux valgus, besprochen habe, und ihm deshalb die verbliebene Hallux valgus-Fehlstellung nicht angelastet werden könne. Der Sachverständige und die Schlichtungsstelle sind aber der Ansicht, dass er die Patientin bezüglich der Beseitigung ihres Ballenproblems falsch beraten hat.

Bezüglich der erhobenen Aufklärungsrüge gilt, dass sich der Schadensersatzanspruch aus dem dargelegten Behandlungsfehler ergibt. Hierüber war nicht aufzuklären, weil ärztliche Behandlungsfehler zu unterbleiben haben und nicht durch Aufklärung zu bewältigen sind. Der Aufklärung unterliegt lediglich das allgemeine Risiko, das mit einer fach- und sachgerecht ausgeführten ärztlichen Behandlung verbunden ist. Dieses Risiko hat sich nicht verwirklicht, weil es durch den festgestellten Behandlungsfehler überlagert worden ist. Ein etwaiger Aufklärungsmangel ist vorliegend, weil durch den nachfolgenden Geschehensverlauf überholt, nicht kausal geworden (vgl. hierzu OLG Zweibrücken VersR 99,719).

Gesundheitsschaden

Bei korrektem Vorgehen wäre nach ärztlicher Erfahrung der Hallux valgus durch eine knöcherne und weichteilige Korrektur begradigt worden, so dass das Ballenproblem erwartungsgemäß dauerhaft beseitigt worden wäre. Durch das fehlerhafte Vorgehen, nämlich die alleinige Abtragung der Pseudoexostose, sind der Hallux valgus und das pathomechanisch bedingte Ballenrezidiv verblieben. Insofern wurde vermeidbar lediglich eine zeitlich begrenzte Beschwerdebesserung erreicht.

Dass die Vaskulitis auf eine fehlerhafte Behandlung zurückzuführen ist, lässt sich nicht beweisen (Beweislast patientenseits).

Fazit

Stellt sich ein Patient mit erfolglos konservativ behandelten Ballenbeschwerden bei Hallux valgus vor, so ist das Ziel der dann indizierten operativen Therapie die Beseitigung des ursächlichen Spreizfußes und die Geradstellung der Großzehe. Die alleinige Abtragung der begleitenden Pseudoexostose bedingt lediglich eine vorübergehende Linderung des Schuhdrucks, verändert aber nicht die Vorfußpathologie. Darüber ist der Patient aufzuklären und zu beraten.

Autoren:

CJW

Prof. Dr. med. Carl J. Wirth

Facharzt für Orthopädie/Unfallchirurgie
Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover

Kerstin Kols, Ass. jur.