Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 07/2008
Einleitung
Blutungen sind die häufigste Komplikation der Behandlung mit oralen Antikoagulanzien vom Typ der Vitamin K-Antagonisten (zum Beispiel Falithrom®, Marcumar®. Die Häufigkeit dieser unerwünschten Wirkung wird durch die Patientenauswahl, die Intensität der Antikoagulation und die Qualität der Patientenüberwachung bestimmt. Da es sich meistens um eine ambulante Langzeittherapie handelt, ist die Compliance ein wichtiges Kriterium der Nutzen-Risiko-Abwägung bei der Indikationsstellung. Von gleichwertiger Bedeutung sind jedoch Kenntnisse des Arztes über Einflussgrößen auf den individuellen Medikamentenbedarf und die adäquate Reaktion bei Hinweisen auf Über- oder Unterdosierungen.
Kasuistik
Die 86-jährige Patientin litt langjährig unter einer koronaren Herzkrankheit und einer arteriellen Hypertonie. Beide Erkrankungen waren medikamentös gut eingestellt. Ferner bestand eine absolute Arrhythmie bei Vorhofflimmern, weswegen seit 1998 eine Behandlung mit Marcumar® durchgeführt wurde. Der bisherige Verlauf war unauffällig.
Die Patientin befand sich vom 8. bis 18. Januar 2006 wegen einer dekompensierten Herzinsuffizienz in Krankenhausbehandlung. In den letzten sieben Tagen des stationären Aufenthaltes hatte sie insgesamt fünf Tabletten Marcumar® erhalten (1 Tabl. = 3 mg Phenprocoumon). Die Intensität der Antikoagulation wurde am 16. Januar 2006 mit Quick-Wert = 24 Prozent beziehungsweise INR-Wert = 3,1 bestimmt. Das Krankenhaus informierte den weiterbehandelnden Hausarzt über die Marcumar®Dosierung während des stationären Aufenthaltes sowie den zuletzt erhobenen Laborbefund durch Kurzarztbrief schriftlich und im Rahmen einer telefonischen Rücksprache.
Aus den Karteikartenaufzeichnungen des Hausarztes geht mit Datum vom 19. Januar 2006 hervor, dass, beginnend mit dem 19. Januar 2006, eine Marcumar®-Dosis von 6,5 Tabl./Woche verordnet wurde. Hiermit übereinstimmende Angaben fanden sich im Antikoagulanzienausweis („Marcumarpass“), der vom Pflegepersonal, das die Patientin in einem Seniorenheim betreute, geführt wurde.
Am 25. Januar 2006 erfolgte ein Hausbesuch, bei dem der Arzt die Patientin bei relativ guter Befindlichkeit ohne Hinweise auf Blutungskomplikationen vorfand. Auch bei einer Vorstellung in der Arztpraxis am 2. Februar 2006 mit körperlicher Untersuchung, Durchführung eines EKG und Blutentnahmen zur Quick-/INR-Bestimmung bestanden keine Hinweise auf Blutungskomplikationen. An diesem Tag teilte das Labor den Quick-Wert = < 8 Prozent beziehungsweise der INR-Wert = > 6,5 mit. Daraufhin verordnete der Hausarzt für diesen und den Folgetag eine Marcumar®-Pause, danach bis 9. Februar 2006 die Einnahme von insgesamt drei Tabletten sowie ab 10. Februar 2006 eine Wochendosis von drei Tabletten Marcumar®. Die nächste Blutentnahme zur Kontrolle der Intensität der Antikoagulation wurde für den 16. Februar 2006 festgelegt.
Am 14. Februar 2006 informierte der Pflegedienst den Arzt über auffällig großflächige Hämatome der Haut bei der Patientin. Der Arzt veranlasste die sofortige Krankenhauseinweisung. Bei stationärer Aufnahme waren Quick- beziehungsweise INR-Wert „nicht messbar“, dass heißt es bestand eine massive und unerwünschte Beeinträchtigung der Blutgerinnungsfähigkeit. Die Krankenhausdiagnose lautete „Marcumarüberdosierung mit multiplen Hauteinblutungen“. Durch die Gabe von Vitamin K und weitere Supportivmaßnahmen kam es während des stationären Aufenthaltes bis 1. März 2006 zu einem weitgehend günstigen Verlauf ohne zusätzliche Komplikationen. Bis zur Entlassung gelang die stabile Neueinstellung der oralen Antikoagulation mit Marcumar®.
Die Tochter der Patientin lastete dem Hausarzt eine fehlerhafte Dosierung des gerinnungshemmenden Medikamentes Marcumar® an und wandte sich an die Schlichtungsstelle.
Der in Anspruch genommene Hausarzt machte in seiner Stellungnahme geltend, dass sich bei einer Ganzkörperuntersuchung am 2. Februar 2006 keine Hinweise auf eine Blutungsneigung ergeben hätten. Auf die am gleichen Tag festgestellten Laborbefunde außerhalb des therapeutischen Bereichs der oralen Antikoagulation habe er mit der vorübergehenden Unterbrechung der Behandlung und danach mit der Reduktion der Wochendosis von Marcumar® angemessen reagiert. Beim Auftreten der Blutungszeichen am 14. Februar 2006 habe er die sofortige Krankenhauseinweisung zeitgerecht veranlasst.
Der von der Schlichtungsstelle beauftragte Gutachter (Facharzt für Allgemeinmedizin) kam zu folgender Bewertung des Sachverhaltes:
Grundsätzlich ist die Antikoagulation mit Marcumar® durch den Hausarzt nicht zu beanstanden. Das nicht-rheumatische Vorhofflimmern als häufige Herzrhythmusstörung älterer Menschen ist auch unter Berücksichtigung möglicher Blutungskomplikationen eine gesicherte Indikation der antithrombotischen Therapie mit Cumarinderivaten, die die Produktion der in der Leber synthetisierten Vitamin K-abhängigen Gerinnungsfaktoren reduzieren. Daher kommt es in der Folge zu einer Abnahme des Quick- beziehungsweise zu einem Anstieg des INR-Wertes. Im Unterschied zum Quick-Wert ist der INR-Wert ein besser standardisierter Parameter zur Erfassung der Intensität der Antikoagulation. Sein therapeutischer Bereich zur Prophylaxe von kardiogenen Embolien bei absoluter Arrhythmie und Vorhofflimmern liegt bei Werten zwischen 2,0 und 3,0. In diesem Bereich wird eine ausreichende Gerinnungshemmung erzeugt ohne den Patienten durch Blutungskomplikationen unangemessen zu gefährden.
Der Gutachter führt aus, dass im vorliegenden Fall die Behandlung mit Marcumar® bis zum 1. Februar 2006 als sachgerecht zu bezeichnen ist. Die weitere Festlegung der Marcumar®-Dosierung vom 2. bis 16. Februar 2006 und die fehlende Anordnung kurzfristiger Kontrollen des INR-Wertes sei als fehlerhaft zu beurteilen. Bereits am 2. Februar 2006 habe nämlich nach den an diesem Tag erhobenen Laborbefunden eine erhebliche Blutungsgefährdung der Patientin bestanden. Neben der Therapiepause sei die orale Gabe von Vitamin K sinnvoll und therapeutisch notwendig gewesen. Weitere Gerinnungskontrollen hätten am 3. oder 4. Februar 2006 erfolgen müssen. Bei einem Vorgehen nach den geltenden Standards wären die eingetretenen Blutungskomplikationen mit hoher Wahrscheinlichkeit vermeidbar gewesen, da immerhin zwischen dem 2. Februar 2006 und dem ersten Auftreten der Blutungskomplikationen am 14. Februar 2006 ein Zeitintervall von zwölf Tagen gelegen hat.
Die Schlichtungsstelle folgte der Einschätzung des Gutachters. Zur Einstellung der Intensität der Antikoagulation im therapeutischen Bereich INR = 2,0 – 3,0 waren regelmäßige Laboranalysen erforderlich. Werte unter 2,0 signalisieren einen verminderten Embolieschutz, Werte über 3,0 eine erhöhte Blutungsgefahr. Die Intensität der Antikoagulation wird durch die Dosierung von Phenprocoumon (Marcumar®) reguliert, wobei erhebliche interindividuelle und intraindividuelle Unterschiede beziehungsweise Schwankungen zu berücksichtigen sind. Die regelmäßigen Laboranalysen dienen der Dosisanpassung. Die zeitlichen Abstände zwischen den Analysen sind eine ärztliche Ermessensentscheidung. Zeitintervalle von mehr als vier bis sechs Wochen sind nicht empfehlenswert. Kürzere Zeitabstände von im Einzelfall 24 Stunden beziehungsweise wenigen Tagen sind angezeigt, wenn im Verlauf einer Antikoagulanzienbehandlung Befunde erhoben werden (zum Beispiel INR-Werte außerhalb des therapeutischen Bereichs, interkurrente Erkrankungen), die eine Dosisanpassung von Phenprocoumon beziehungsweise eine Überprüfung der Einstellung erforderlich machen.
Vor diesem Hintergrund ist festzustellen, dass am 2. Februar 2006 ein INR-Wert ermittelt wurde, der weit außerhalb des therapeutischen Bereichs lag und eine gravierende Blutungsgefährdung der Patientin signalisierte. Blutungszeichen lagen zu diesem Zeitpunkt nicht vor. In einer solchen Situation kann es dahingestellt bleiben, ob der Verzicht auf die sofortige Gabe von Vitamin K zur Antagonisierung der Antikoagulanzienwirkung von Phenprocoumon als Fehler zu klassifizieren ist. Der entscheidende Fehler liegt jedoch in der Tatsache, dass es der Hausarzt unterlassen hat, die erforderlichen kurzfristigen Laboranalysen durchzuführen. Er hat die Behandlung quasi im „Blindflug“ über einen Zeitraum von 14 Tagen fortgesetzt. Auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass eine Dosisreduktion vorgenommen wurde, ist dieses Verhalten als fehlerhaft zu bezeichnen. Es ist nämlich davon auszugehen, dass bei den erforderlichen kurzfristigen Laboranalysen INR-Werte festgestellt worden wären, die eine anhaltende Überdosierung anzeigen. Korrekt wäre es gewesen, die Medikation mit Phenprocoumon abzusetzen und erst dann wieder aufzunehmen, wenn weitere Kontrollen ansteigende INR-Werte beziehungsweise INR-Werte im therapeutischen Bereich ergeben hätten. Als Folge des Behandlungsfehlers ist es zu den nachfolgenden Blutungskomplikationen mit der Notwendigkeit stationärer Behandlung gekommen.
Die außergerichtliche Regulierung des Schadens wurde empfohlen.