Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 07/2009
Seit über 30 Jahren bieten die Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen der Ärztekammern in der Bundesrepublik Deutschland ein außergerichtliches Begutachtungs- und Streitschlichtungsverfahren an, das international seinesgleichen sucht. In zirka 90 Prozent der Fälle akzeptieren Patienten und Ärzte gleichermaßen die Entscheidungen der Kommissionen, womit die Arzthaftungsstreitigkeiten letztlich beigelegt sind. Die Norddeutsche Schlichtungsstelle mit Sitz in Hannover betreut insgesamt neun Landesärztekammern und verzeichnete im Jahre 2008 insgesamt 4 010 Schlichtungsanträge, davon 1 289 aus Niedersachsen.
Die nachfolgenden Ausführungen basieren allein auf den niedersächsischen Zahlen, wobei zu beachten ist, dass die Statistik der Norddeutschen Schlichtungsstelle ausschließlich über die Ergebnisse der Verfahren informiert, die an die Schlichtungsstelle herangetragen wurden. Allgemeine Schlussfolgerungen lassen sich aufgrund der selektierten Datenbasis und der fehlenden Vergleichswerte nicht ziehen. Insbesondere wäre es nicht zulässig, hieraus Prozentrechnungen über die Fehlerhäufigkeit in verschiedenen Fachgebieten oder in der Medizin generell anzustellen. Möglich aber ist es,
a) Schwerpunkte zu identifizieren, wie Patientenunzufriedenheit (erhobene Vorwürfe),
- welche Krankheiten führen gehäuft zu Verfahren?
- welche Krankheiten sind gehäuft mit Fehlern behaftet?
- Verteilung auf die Versorgungsebenen,
- Fachgebiete (Klinik, Praxis),
- Fehlerarten (Klinik, Praxis) und
- fehlbehandelte Krankheiten (Klinik, Praxis);
b) Tendenzen aufzuzeigen.
Anträge und Entscheidungen: Tendenzen der Jahre 2000 bis 2008
Im Vergleich von heute gegenüber dem Jahr 2000 ist die Zahl der Anträge um knapp zwölf Prozent gestiegen. Dies zeigt die nach wie vor große Akzeptanz der Norddeutschen Schlichtungsstelle.
Die meisten Fehlervorwürfe – berechtigt oder nicht – betrafen die Bereiche
- Technische Durchführung von Operationen,
- Diagnostik (Untersuchung),
- postoperative Maßnahmen sowie
- Diagnostik mit bildgebenden Verfahren.
Signifikante inhaltliche Tendenzen mit jeweils Zuwächsen gibt es bei drei Positionen. So wuchs die Zahl der Patientenvorwürfe im Bereich Diagnostik (Anamnese/Untersuchung) von 72 im Jahr 2000 auf 155 in 2008.
Die Pharmakatherapie zog von 45 (2000) auf 79 im Jahr 2008 an, während sich die Zahl der Eingaben bei der Kategorie „Risikoaufklärung“ nahezu verdoppelte, und zwar von 42 (2000) auf 81 im vergangenen Jahr. Gleichwohl blieb der Anteil begründeter Ansprüche mit 29 (2000) zu 28 Prozent (2008) nahezu stabil.
Die häufigsten Erkrankungen, die 2008 zu Antragstellungen geführt haben, betrafen – wie schon in den Vorjahren – Frakturen, Arthrosen (Hüft- und Kniegelenk) sowie Brustkrebs. Die Tendenz bei der Kniegelenkarthrose ist steigend.
In etwa gleich geblieben sind auch die Anteile der Versorgungsbereiche. Während der niedergelassene Sektor von 28 auf 26 Prozent leicht abnahm, gab es bei der Krankenhausversorgung von 72 auf 74 eine moderate Steigerung.
Ein Blick auf die Fachgebiete und Tätigkeitsbereiche zeigt, dass sich
a) im niedergelassenen Bereich Hausärzte, Unfallchirurgen, Orthopäden und Gynäkologen seit 2000 in der Spitzengruppe befinden, während es
b) auf dem Kliniksektor auch keine signifikanten Verschiebungen gegeben hat. An vorderer Stelle stehen – ebenfalls unverändert – Unfallchirurgie, Allgemeinchirurgie, Orthopädie und Innere Medizin.
Die Analyse ärztlicher Fehler zeigt seit 2000 (fast unverändert) folgende Schwerpunkte: Im Klinikbereich ist es die operative Therapie (Wahl der Operationsmethode, technische Durchführung und postoperatives Management), gefolgt von der Röntgendiagnostik (Fehlinterpretation und Übersehen von Frakturen sowie Mängel in der röntgenologischen Verlaufskontrolle) sowie der Indikationsstellung und der Diagnostik allgemein (Mängel bei Anamneseerhebung, körperlicher Untersuchung, Zusatzuntersuchungen wie zum Beispiel Labor).
Demgegenüber steht im niedergelassenen Bereich unverändert die allgemeine Diagnostik (Mängel bei Anamneseerhebung, körperlicher Untersuchung, Zusatzuntersuchungen wie zum Beispiel Labor etc.) an der Spitze; gefolgt von der bildgebenden Diagnostik, Indikationsstellung, Pharmakatherapie sowie der operativen Therapie.
Insgesamt zeigen sich in beiden Versorgungsbereichen keine wesentlichen von den Vorjahren abweichende Tendenzen mit Ausnahme von unterlassenen Überweisungen an andere Fachärzte, die als Fehler in den Hintergrund gerückt sind.
Das Datenmaterial und sein Nutzen für mehr Patientensicherheit
Die bei den Entscheidungen der Norddeutschen Schlichtungsstelle anfallenden Daten werden mittels Medical Error Reporting System (MERS) erfasst. Dieses reichhaltige Material über Risiken und Gefahren dient seitdem als Grundlage zahlreicher Vorträge und Veröffentlichungen mit dem Ziel, die ärztliche Fehlerprophylaxe zu unterstützen.
In der Zeit von 2000 bis 2008 hat allein die Norddeutsche Schlichtungsstelle 304 MERS-basierte Berichte und Aktivitäten für mehr Patientensicherheit generiert:
- 156 Vorträge bei Kongressen, Qualitätszirkeln, Weiterbildungsveranstaltungen sowie 107 Fallberichte in regionalen norddeutschen Ärzteblättern und im Internet (www.schlichtungsstelle.de), ferner
- 41 Originalartikel in nationalen und internationalen wissenschaftlichen Zeitschriften.
Daneben wurde die Arbeitsgruppe „Patientensicherheit & Risikomanagement“ aus Vertretern der Ärztekammer Niedersachsen und der Norddeutschen Schlichtungsstelle gegründet. Sie hat sich zur Aufgabe gemacht, das Thema „Patientensicherheit – Lernen aus Behandlungsfehlern“, offensiv anzugehen. Sie möchte mit jährlichen Schwerpunktthemen (bisherige: Appendizitis, Koxarthrose, Arzneimitteltherapiesicherheit) einen Beitrag dazu leisten, ein neues Bewusstsein im Umgang mit Fehlern in der Gesundheitsversorgung zu schaffen und eine neue „Fehlerkultur“ zu entwickeln.