Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 6/2017
Kasuistik
Im Rahmen dieses Schlichtungsverfahrens war die Behandlung durch die Ärzte eines Zentrums für Unfall-, Orthopädische- und Handchirurgie in einem Klinikum zu prüfen.
Ein 20-jähriger Patient erlitt am 7. Juni eine Schnittverletzung am rechten Zeigefinger. Die ambulante medizinische Erstversorgung erfolgte noch am Unfalltag im Klinikum. Beugeseitig, in Höhe des Mittelgelenks, fand sich eine querverlaufende Wunde. Klinisch wurde eine Durchtrennung der tiefen Beugesehne diagnostiziert. Nach Wundsäuberung und Wundverschluss in Lokalanästhesie erfolgte die Anlage eines Verbands und dem Patienten wurde empfohlen, eine operative Behandlung der Beugesehnendurchtrennung durchführen zu lassen. Am 12. Juni sollte der Eingriff ambulant durchgeführt werden. Die Operationsvorbereitung erfolgte am 11. Juni in der Handchirurgie des Klinikums.
Intraoperativ fand sich eine komplette Durchtrennung der tiefen und eine Teildurchtrennung der oberflächlichen Beugesehne sowie eine Durchtrennung des ellenseitigen Fingernervens. Nach Naht der Sehnen erfolgte die mikrochirurgische Naht des Nervens. Postoperativ wurde eine dynamisch-geschützte Nachbehandlung eingeleitet. Eine Wiedervorstellung im Klinikum wurde für den 17. Juni vereinbart. Bereits am 14. Juni wurde der Patient im Klinikum notfallmäßig wegen akuter Beschwerden am rechten Zeigefinger vorstellig. Bei der klinischen Untersuchung fanden sich eine deutliche Schwellung und Rötung mit eitriger Sekretion. Noch am gleichen Tag erfolgte ein Revisionseingriff mit Wunddébridement, Spülung und Anlage einer Drainage. Bei der erneuten Wundrevision am 17. Juni waren die Wundränder noch nekrotisch und eitrig belegt. Nach weiterem Débridement verblieb ein Haut-Weichteildefekt bei freiliegender Beugesehne, der mit einer gekreuzten Fingerlappenplastik gedeckt wurde. Bei der dritten Revision am 20. Juni wurde eine Antibiotikakette in die Wunde eingelegt und der Hebedefekt am Mittelfinger mit Spalthaut gedeckt. Die Durchtrennung des Lappenstiels erfolgte am 10. Juli.
Bei der Vorstellung am 15. September im Klinikum fanden sich reizlose Wundverhältnisse bei eingeschränkter Beweglichkeit des rechten Zeigefingers. Ein Revisionseingriff zur Lösung von Verwachsungen wurde mit dem Patienten besprochen.
Beanstandung der ärztlichen Maßnahmen
Der Patient bemängelt die Behandlung und weist daraufhin, dass bei der Operation am 12. Juni Keime in die Wunde eingedrungen seien. Mehrfach hätte er operiert werden müssen und es seien Bewegungseinschränkungen des rechten Zeigefingers verblieben.
Stellungnahme Klinikum
Die Ärzte führen aus, dass am Unfalltag primär eine Wundsäuberung und eine Wundnaht in Lokalanästhesie erfolgt seien. Die Wunde sei mit einem Verband versorgt worden und eine spät-primäre Naht der durchtrennten Beugesehne sei vereinbart worden. Der Eingriff sei dann am 12. Juni korrekt in einer handchirurgischen Technik durchgeführt worden. Wegen eines Infekts am rechten Zeigefinger sei eine stationäre Aufnahme erfolgt und die infizierte Wunde zeitnah revidiert worden. Da intraoperativ ein spannungsfreier Wundverschluss nicht möglich gewesen sei, sei der verbliebene Haut-Weichteildefekt mit einer Kunsthaut gedeckt worden. Ein erneutes Wunddébridement sei ebenfalls zeitnah erfolgt und der verbliebene Haut-Weichteildefekt bei freiliegender Beugesehne mit einer Lappenplastik gedeckt worden. Beim dritten Eingriff sei eine Antibiotikakette eingelegt und der Hebedefekt am rechten Mittelfinger mit einem Spalthauttransplantat gedeckt worden. Der Lappen sei am 10. Juli nach Einheilung durchtrennt worden. Wegen verbliebener Bewegungseinschränkungen sei eine Beugesehnentenolyse angedacht gewesen.
Der Verlauf sei als „schicksalhaft“ anzusehen. Postoperative Infektionen wären nicht sicher vermeidbar gewesen. Es hätte keine Verzögerung in der Versorgung bestanden.
Gutachten
Der Gutachter, Facharzt für Chirurgie, Orthopädie, spezielle Unfallchirurgie und Handchirurgie, ist der Auffassung, dass bei der beanstandeten Behandlung im Klinikum seinerzeit gegen geltende Standards teilweise verstoßen worden sei.
Die operative Versorgung der durchtrennten Beugesehne hätte primär, am besten innerhalb der posttraumatischen ersten sechs Stunden, erfolgen sollen. Bei dem Eingriff am 12. Juni (fünf Tage nach der Verletzung) sei keine Antibiotika-Prophylaxe erfolgt. Die technische Durchführung der Operation am 12. Juni sei korrekt erfolgt, ebenso die nachfolgenden Eingriffe.
Am 7. Juni hätte wegen der Schnittverletzung am rechten Zeigefinger keine absolute Indikation für eine sofortige operative Versorgung bestanden. Sie sei primär nicht zwingend erforderlich. Der Eingriff hätte zeitnah verschoben werden können, nicht jedoch um fünf Tage. Es sei nicht sach- und fachgerecht gewesen, die Versorgung der verletzten Strukturen auf einen früh-sekundären Zeitpunkt zu verschieben. Die notwendigen operativen Maßnahmen hätten am 7. Juni in das Operationsprogramm als dringliche Operation eingeplant und durchgeführt werden müssen. Die Nachbehandlung im Klinikum sei korrekt erfolgt.
Die verbliebenen Funktionsbeeinträchtigungen am rechten Zeigefinger hätten teilweise ihre Ursache in der fehlerhaften verspäteten Primärversorgung. Bei sorgfältigem Vorgehen hätte der Fehler in der damaligen Situation vermieden werden können. Bei richtigem ärztlichem Handeln wären möglicherweise ohnehin Bewegungseinschränkungen eingetreten. Die postoperative Infektion nach dem 12. Juni sei fehlerhaft eingetreten. Gesundheitliche Beeinträchtigungen seien zusätzlich allein fehlerbedingt nicht eingetreten.
Stellungnahme zum Gutachten
Ärztlicherseits wird vorgetragen, dass die Durchführung der operativen Versorgung am selben Tag innerhalb eines Zeitraums von acht Stunden nur bedingt hätte eingehalten werden können. Es wäre sonst zu einer verzögerten primären Naht innerhalb der zwei posttraumatischen Wochen gekommen. Bei den präoperativen, ambulanten Wiedervorstellungsterminen hätte kein Anhalt für eine Infektion bestanden. Warum eine Antibiotikagabe nicht durchgeführt worden sei, könne im Nachhinein nur vermutet werden.
Bewertung der Haftungsfrage
In Würdigung der medizinischen Dokumentation, der Stellungnahmen der Beteiligten und der gutachterlichen Erwägungen schließt sich die Schlichtungsstelle unter eigener Urteilsbildung dem Gutachten im Hinblick auf den Schadensumfang im Ergebnis nicht an, weil juristische Erwägungen zur Beweislastverteilung und zur Beweiswürdigung, die der medizinische Sachverständige nicht anzustellen hatte, zu einem anderen Ergebnis führen.
Das ärztliche Vorgehen war fehlerhaft. Es bestand am 7. Juni eine Indikation, die Wunde zu revidieren und die durchtrennte Beugesehne und den Nerven zu versorgen. Spätprimär hätte dies bis vierundzwanzig Stunden nach dem Trauma erfolgen müssen, damit eine zugfreie Adaption der Sehnenenden hätte erfolgen können. Zum Zeitpunkt der Operation waren die Sehnenenden bereits retrahiert und konnten somit nicht mehr spannungsfrei zusammengenäht werden. Die Operation am 12. Juni war ebenfalls fehlerhaft. Nach Ablauf von fünf Tagen hätte eine perioperative Antibiotikatherapie erfolgen müssen.
Es kann aber nicht bewiesen werden, dass dieser Behandlungsfehler ursächlich für die weiteren patientenseits erlittenen Beeinträchtigungen und Nachteile geworden ist, das heißt – was Voraussetzung für eine Haftung wäre –, dass der weitere komplikationsbelastete Verlauf und der Eintritt der Infektion bei korrekter Behandlung vermieden worden wäre (Beweislast liegt beim Patienten).
Gesundheitsschaden
Bei korrekter Primärversorgung innerhalb von 24 Stunden und infektfreier Abheilung der Wunde wäre nach ärztlicher Erfahrung bei dynamisch-geschützter Frühmobilisation mit einem guten bis sehr guten Ausheilungsergebnis der Sehnenverletzung zu rechnen gewesen. Durch das fehlerhafte Vorgehen kam es zu einer um mindestens drei Tage verzögerten Operation mit bestehenden Beschwerden und zu einem Streckdefizit mit der Notwendigkeit von Revisionsoperationen.
Fazit
Die Erfahrungen haben gezeigt, dass eine Primärnaht frisch durchtrennter Beugesehnen innerhalb der ersten Stunden am einfachsten durchführbar ist und dass die Ergebnisse besser sind als bei einer spätprimären verzögerten Naht.
Die Pioniere der Sehnenchirurgie erwarben sich ein bleibendes Verdienst durch ihre zahlreichen Untersuchungen und Veröffentlichungen, mit denen sie auf die bestmöglichen Ergebnisse bei primärer Wiederherstellung verletzter Sehnen hinwiesen.