Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 10/2004
Einleitung
Das Unterschenkelkompartmentsyndrom tritt in der Regel nach langdauernden Operationen über drei bis vier Stunden und mit Beinhochlagerung auf. Alle operativen Fachgebiete können betroffen sein, insbesondere die kolorektale Chirurgie, die Gynäkologie, die Urologie, die Unfallchirurgie. (Müller-Vahl H., Compartment-Syndrom, In: Hopf HC, Poeck K, Schliack H (Hrsg): Neurologie in Praxis und Klinik, Bd. III, Thieme, Stuttgart 1986 (p 2.146 –2.150). Für die Entstehung des Kompartmentsyndroms müssen neben der Lagerungsdauer auch andere, u. U. nicht beherrschbare Ursachen in Betracht gezogen werden, wie intraoperative Kreislaufdepressionen, Blutungsanämie, individuelle anatomische oder gefäßpathologische Besonderheiten. Allein die Seltenheit dieser postoperativen Komplikationen auch nach langdauernden Operationen spricht dafür, daß das Risiko im Einzelfall nicht sicher beherrschbar ist. Für die haftungsrechtliche Beurteilung kommt es entscheidend darauf an, daß ein an sich unverschuldetes Kompartmentsyndrom rechtzeitig diagnostiziert und behandelt wurde.
Das Unterschenkelkompartmentsyndrom ist eine ätiologisch und klinisch gut definierte akute Durchblutungsstörung mit einer charakteristischen und richtungsweisenden Anfangssymptomatik: Schmerzen, Muskelverhärtung, Parästhesien im Unterschenkel und Fußbereich. Die Kenntnis und richtige Einschätzung dieser Frühsymptomatik ist bei jedem klinisch tätigen Arzt vorauszusetzen. Zunächst ist diese Symptomatik als Form einer akuten Durchblutungsstörung zu erkennen und bei „Fachfremdheit“ sofort ein kompetenter Arzt (Chirurg, Traumatologe, Neurologe) zu konsultieren. Das Schicksal der betroffenen Extremität wird entscheidend von der frühzeitigen Therapie in Form der Eröffnung aller vier Unterschenkelmuskellogen (Faszienspaltung) bestimmt.
Kasuistiken[bereich]
1.
Eine 43 Jahre alte Patientin wurde wegen eines großen Uterus myomatosus operiert. Die Operation wurde in sogenannter Steinschnittlage, also mit Hochlagerung der Beine, durchgeführt. Die Operation war durch Verwachsungen in Folge vorangegangener Operationen erschwert. Die Operationslagerung dauerte entsprechend Anästhesieprotokoll 390 Minuten. Unmittelbar postoperativ trat ein Kompartmentsyndrom an beiden Unterschenkeln auf. Zwei Stunden nach Operationsende klagte die Patientin über anhaltende Schmerzen in beiden Unterschenkeln. Laut Pflegebericht waren zu diesem Zeitpunkt beiden Waden sehr fest, der Urin war dunkelbraun. Der hinzugezogene Gynäkologe diagnostizierte eine „stauungsbedingte ödematöse schmerzhafte Schwellung“, es wurden Kühlung und Beinhochlagerung (!) verordnet. Nachdem die Verhärtung der Waden im Laufe der Nacht weiter zunahm und die Schmerzen unverändert fortbestanden, erfolgte ca. 8 Stunden nach der Operation die Konsultation des Chirurgen. Dieser stellte die Diagnose: Unterschenkelkompartmentsyndrom beidseits, rechts stärker als links und veranlaßte die Faszienspaltung aller vier Muskellogen an beiden Unterschenkeln, die etwa 90 Minuten später durchgeführt wurde. Die offengelassenen Hautwunden konnten später plastisch gedeckt werden. Muskelnekrosen traten nicht auf. Als Schaden verblieben zunächst Teilfunktionsausfälle an den N. tibialis und N. fibularis beidseits mit Schmerzsymptomatik und Gehbehinderung. Elektroneurographisch haben sich diese Nervenausfälle später weitgehend zurückgebildet.
Die Patientin wirft den Ärzten der Frauenklinik vor, das Kompartmentsyndrom nicht rechtzeitig erkannt und die entsprechende Behandlung veranlaßt zu haben. Die verbliebenen Beschwerden hätten bei rechtzeitiger Therapie verhindert werden können.
In einer Stellungnahme zu diesen Vorwürfen stellte der Leiter der Frauenklinik fest: Die lange Dauer der Operation sei durch den komplizierten Befund objektiv begründet gewesen und die Lagerung korrekt und unter Anwendung von Gelkissen auf den Unterschenkellagerungsschienen erfolgt. Nach Eintritt von Sensibilitätsstörungen sei der Chirurg konsultiert worden.
In einem neurologischen Gutachten wurde die Diagnose eines beidseitigen Kompartmentsyndroms zunächst bestätigt. Als Ursache wurde die langdauernde Beinhochlagerung während der Operation gesehen. Auf eine fehlerhafte Lagerung könne nicht geschlossen werden. Dagegen sei angesichts der klassischen Anfangssymptomatik von einer fehlerhaften Verzögerung der Diagnose des Kompartmentsyndroms auszugehen, wodurch die erforderliche unverzügliche Spaltung der Unterschenkelmuskellogen unterblieb. Der Gutachter weist mit Literaturbezug darauf hin, daß das Unterschenkelkompartmentsyndrom nach langdauernden Operationen in Steinschnittlage, besonders in der Urologie und der Gynäkologie, eine zwar seltene, aber durchaus typische Komplikation sei, die zwar in der Regel unverschuldet ist, deren frühzeitige Erkennung aber anhand der typischen klinischen Anfangssymptomatik zu fordern sei. Zur Beurteilung der Frage, welche Auswirkungen die mindestens sechs Stunden verzögerte Faszienspaltung hatte, wurde ein chirurgisches Gutachten eingeholt. Die fehlerhafte Mißdeutung der Frühsymptomatik wird in diesem Gutachten bestätigt. Bei frühzeitiger Durchführung der Faszienspaltung wären die anfänglichen erheblichen Schmerzen geringer gewesen und auch frühzeitiger abgeklungen. Aus dem Fehler der verzögert durchgeführten Faszienspaltung resultiere ein Anspruch auf Schmerzensgeld. Ein möglicherweise verbliebener neurologischer Restschaden könne jedoch nicht mit ausreichender Sicherheit auf die verzögerte Fasziotomie zurückgeführt werden.
Die Schlichtungsstelle folgte den übereinstimmenden Aussagen beider Gutachter. Es wurde im Bescheid noch einmal verdeutlicht: Ein Kompartmentsyndrom nach langdauernder Steinschnittlagerung ist auch bei korrekt durchgeführten Lagerungsmaßnahmen nicht immer zu vermeiden. Das Nichterkennen dieser Komplikation trotz klassischer Anfangssymptomatik stellt aber einen vermeidbaren Fehler dar. Auch Fachärzte für Gynäkologie müssen diese postoperative Komplikation kennen und rechtzeitig diagnostizieren.
2.
Ein 61-jähriger Mann wurde in einer Urologischen Klinik an einem Prostatakarzinom operiert: Prostatektomie, Lymphadenektomie. Die Operation wurde in Steinschnittlage durchgeführt, die Operationslagerung dauerte entsprechend Anästhesieprotokoll 185 Minuten. Postoperativ entwickelte sich ein Unterschenkelkompartmentsyndrom auf der linken Seite. Über Schmerzen im linken Unterschenkel wurde laut Behandlungsdokumentation bereits am 1. postoperativen Tag berichtet. Am zweiten Tag wurde eine „komplette Fibularislähmung“ festgestellt. An diesem Tage erfolgte eine internistische und eine unfallchirurgische Konsiliaruntersuchung mit dem Ergebnis, daß zunächst eine Thrombose auszuschließen sei. Diese wurde anschließend dopplersonographisch ausgeschlossen. Am 4. postoperativen Tag wurde durch den konsultierten Neurologen das Unterschenkelkompartmentsyndrom festgestellt. Nunmehr erfolgte die Übernahme in die Unfallchirurgische Klinik. Dort wurde zunächst die alleinige Spaltung der Tibialis anterior-Loge vorgenommen. Im weiteren Verlauf mußten drei weitere Wundrevisionen zur Entfernung von Muskelnekrosen durchgeführt werden. Als Dauerschaden verblieben eine komplette Lähmung des N. fibularis, ein entsprechender Muskeldefekt sowie geringfügige Funktionsstörungen des N. tibialis und des N. suralis als Hinweis auf Mitbeteiligung der dorsalen Muskellogen.
Der Patient sah das Kompartmentsyndrom als ärztlich verschuldet an und wandte sich an die Schlichtungsstelle. Diese forderte ein neurologisches Gutachten zur Feststellung der Ursache des Kompartmentsyndroms und des verbliebenen Dauerschadens an. Gestützt auf die ausführliche neurologische Begutachtung kam die Schlichtungsstelle zu folgendem Ergebnis:
Das Kompartmentsyndrom entwickelte sich von Anfang an mit einer typischen Symptomatik. Den am ersten postoperativen Tag aufgetretenen Unterschenkelschmerzen wurde nicht nachgegangen (kein klinischer Untersuchungsbefund). An diesem Tage hätte man bereits die Diagnose, zumindest aber den hochgradigen Verdacht auf ein Kompartmentsyndrom stellen und sofort die Spaltung aller vier Unterschenkelkompartimente durchführen müssen. Völlig unverständlich ist, daß am 2. postoperativen Tag die eingetretene Lähmung des N. fibularis selbst nach Beiziehung des Unfallchirurgen nicht zur allerdings jetzt schon verspäteten Diagnose führte. Den an der Behandlung beteiligten Ärzten sind somit zwei Fehler vorzuwerfen.
- Um vier Tage verzögerte Diagnose und Therapie des Kompartmentsyndroms,
- unvollständige Therapie, indem nur eine anstatt aller vier Muskellogen gespalten wurden.
Der Dauerschaden in Form der kompletten N. fibularis-Lähmung und des Verlustes der tibio- anterioren Muskelatur war im wesentlichen auf die verzögerte und fehlerhafte Therapie zurückzuführen. Da jedoch auch bei rechtzeitiger Faszienspaltung nicht immer mit einer vollständigen Erholung der Muskel- und Nervenfunktionen gerechnet werden kann, empfahl die Schlichtungsstelle, im Rahmen einer außergerichtlichen Regulierung drei Viertel des Schadens als fehlerbedingt und ein Vierteil des Schadens als unvermeidbar anzusehen.
[bereich]Fazit
Das Unterschenkelkompartmentsyndrom ist eine klinisch eindeutig definierte Entität. Die Symptomatik und deren Einschätzung als akute, unverzüglich zu therapierende Durchblutungsstörung gehört zum ärztlichen Grundwissen. Die Seltenheit als postoperative Komplikation kann keine Entschuldigung für deren Nichterkennung oder Fehldeutung sein. Dies gilt z. B. gleichermaßen für Kompartmentsyndrome, die spontan oder nach Bagatelltraumen auftreten.