Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Dekubitusprophylaxe – haftungsrechtliche Aspekte

Liability Aspects of Decubitus Prophylaxis

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 02/2004

Kasuistik

Eine 72-jährige Patientin war wegen einer beidseitigen Cox-Arthrose mit schmerzbedingten Kontrakturen an beiden Hüft- und Kniegelenken nicht mehr gehfähig. Bei stark reduziertem Ernährungs- und Kräftezustand bestand eine ausgeprägte Inaktivitätsatrophie der Muskulatur an den unteren Extremitäten. Nebenbefundlich lagen weiterhin eine arterielle Hypertonie, ein nicht insulinpflichtiger Diabetes mellitus und eine chronisch fibrosierende Pneumonie vor. Durch Implantation von Hüftgelenksendoprothesen sollten die Schmerzzustände behoben und eine Re-Mobilisierung angestrebt werden. Bei Klinikaufnahme lagen keine Hautdruckschäden (Dekubitalulcera) vor.

Die Patientin wurde einen Tag nach Klinikaufnahme operiert (Implantation einer Hüftgelenkstotalendoprothese auf einer Seite). 2 Tage nach der Operation wurde ein beginnender Dekubitus über dem Steißbein festgestellt. Dieser heilte im Laufe der anschließenden dreiwöchigen stationären Behandlung wieder weitgehend ab. Am 4. postoperativen Tag wurde ein weiterer Dekubitus an der rechten Ferse festgestellt. Dieses Ulcus heilte langfristig nicht ab. Am Tag der Feststellung des Fersendekubitus erfolgte durch den Pflegedienst eine „Dekubitusmeldung“ auf einem Formblatt. Der Adressat dieser Meldung geht aus dem Formular nicht hervor. Des weiteren erfolgte gleichfalls zu diesem Zeitpunkt, also nach Feststellung der Dekubitalulcera, die Bestimmung des Dekubitusrisikos nach der modifizierten Norton-Skala. Die Wertung ergab 19 Punkte, gleichbedeutend mit hohem Risiko (geringstmögliche Punktzahl 9 = maximales Risiko, höchstmögliche Punktzahl = 36 minimales Risiko).

Die Angehörigen der Patientin gingen davon aus, daß aufgrund des oben dargestellten Krankheitszustandes bereits präoperativ von einem erhöhten Dekubitus-Risiko auszugehen war. Es seien weder präoperativ noch unmittelbar postoperativ dekubitusprophylaktische Maßnahmen durchgeführt worden. Hätte man diese durchgeführt, so wären die Ulcera vermieden worden. Aus dem Auftreten der Dekubitalulcera werden Schadenersatzansprüche abgeleitet. Die Dekubitus-Therapie wird ausdrücklich nicht beanstandet.

Seitens der in Anspruch genommenen Klinik wurden eine ärztliche Stellungnahme unter Bezugnahme auf den Pflegebericht des Inhaltes abgegeben, daß die Dekubitalulcera rechtzeitig erkannt und korrekt behandelt worden sei. Auf die von den Antragstellern ausdrücklich beklagte Unterlassung der Dekubitus-Prophylaxe wird in diesem Schreiben nicht eingegangen.

Der von der Schlichtungsstelle beauftragte Gutachter stellte bei seiner Auswertung der Behandlungsunterlagen zunächst Dokumentationsmängel fest. In der ärztlichen Verlaufsberichterstattung und im Abschlußbericht finden sich keinerlei Angaben über das Auftreten, die Befundbeschreibung und die Behandlung von Dekubitalulcera. In der Pflegeberichterstattung wurde erst nach Auftreten des Fersenulcus am 4. postoperativen Tag erstmals über Dekubitalulcera berichtet. Ab diesem Zeitpunkt erfolgte von pflegerischer Seite auch eine korrekte Dokumentation der entsprechenden prophylaktischen und Therapiemaßnahmen. Der Gutachter unterließ eine Wertung der nicht dokumentierten Dekubitus-Prophylaxe in den ersten 5 Behandlungstagen. Es habe von vornherein ein stark erhöhtes Risiko in Bezug auf das Auftreten von Lagerungsschäden bestanden. Die beiden Ulcera seien auf dieses hohe Risiko zurückzuführen. Einen Behandlungsfehler könne der Gutachter nicht erkennen.

Die Schlichtungsstelle konnte diese Beweisführung für ein fehlerfreies ärztliches Handeln nicht übernehmen. In der Behandlungsdokumentation finden sich für den Zeitraum von der stationären Aufnahme bis zur Feststellung der Dekubitalulcera am 5. Behandlungstag keinerlei Hinweise auf die Anordnung und Durchführung einer planmäßigen Dekubitus-Prophylaxe. Hier ist von einem juristisch entscheidenden Dokumentationsmangel auszugehen: Laut einer Entscheidung des BGH vom 18.03.1986 (VersR 37 (1996), S. 788) sind „im Krankenblatt eines Krankenhauspatienten, bei dem die ernste Gefahr eines Durchliegegeschwürs (Dekubitus) besteht, sowohl die Gefahrenlage (Dekubitus-Risiko), als auch die ärztlich angeordneten Vorbeugungsmaßnahmen zu dokumentieren.“

Der hier vorliegende Dokumentationsmangel führt zur Verlagerung der Beweislast auf die Arztseite. Dem Gutachter ist zwar zuzustimmen, daß auch bei korrekter Dekubitus-Prophylaxe die Entstehung eines Dekubitalulcus möglich gewesen wäre. Es ist aber hier davon auszugehen, daß die unterlassene (nicht dokumentierte) Prophylaxe geeignet war, die tatsächlich aufgetretenen Dekubitalulcera zu verursachen. Die Kausalität war damit auf dem Wege der Beweislastumkehr als gegeben anzunehmen. Als anspruchsberechtigende Folgen waren festzustellen:

  •  durch die Dekubitalulcera ausgelöste Schmerzen
  • Verlängerung der Behandlungsdauer über den Entlassungszeitpunkt hinaus bis zur Abheilung des Fersenulcus
  • Beeinträchtigung der Re-Mobilisierung durch das Fersenulcus

Die Schlichtungsstelle hielt Schadenersatzansprüche in diesem Rahmen für begründet und empfahl eine außergerichtliche Regulierung.

Autoren:

HV

Prof. Dr. med. Heinrich Vinz

Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover