Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Der Weg zur richtigen Diagnose führt über eine sorgfältige Anamnese und Untersuchung

Kasuistik

Am 20. November knickte ein 54-jähriger Patient beim Aussteigen aus dem Auto an der Bordsteinkante um. Er habe sich dabei den Rücken verdreht und sei auf diesen gestürzt. Seitdem habe er Schmerzen paravertebral, ziehend in beide Leisten. Im D-Arztbericht des in Anspruch genommenen Klinikums ist angegeben, dass ein Druckschmerz paravertebral rechts an der oberen LWS und über den Facetten bestand, Ausstrahlung in beide Leisten und in beide Hoden. Lasegue rechts ab 40° positiv. Parästhesien laterale  Unterschenkel und Fuß beidseits (seit über einem Jahr bekannt, nicht progredient). Keine Paresen, PSR, ASR und Sphinkterreflex prompt. Die Röntgenaufnahmen der Lendenwirbelsäule ergaben keinen Hinweis auf eine knöcherne Verletzung. Beschrieben wird, dass es sich am ehesten um eine degenerativ bedingte Impression der Deckplatte des LWK5 handelt.

Unter der Diagnose „Lumboischialgie nach Distorsion der Lendenwirbelsäule“ wurde der Patient stationär aufgenommen. Am 25. November wurde eine MRT-Untersuchung der Lendenwirbelsäule durchgeführt. Dabei zeigten sich mediane Bandscheibenvorfälle im Segment LWK3/4, 4/5 und LWK5/SWK1. Es erfolgte die Mobilisierung unter krankengymnastischer Anleitung. Am 28. November erfolgte die Entlassung in die ambulante Weiterbehandlung zum niedergelassenen Chirurgen/Orthopäden. Bei der ersten Vorstellung am 4. Dezember benutzte der Patient Unterarmgehstützen. Es fand sich ein Druck- und Klopfschmerz der unteren Lendenwirbelsäule mit Verspannung der paravertebralen Muskulatur. Angegeben wurden einstrahlende Schmerzen im Bereich der rechten Leiste. Am 24. März des Folgejahrs wurde vom Facharzt für Chirurgie/Unfallchirurgie ein unfallchirurgisches Zusammenhangsgutachten erstellt. Hier wurde vom Patienten angegeben, dass er auf einer unbetonierten Gras- beziehungsweise Sandfläche, die zudem nass gewesen sei, weggerutscht und auf das Gesäß und dann auf die Seite gefallen sei. Ein sofortiger Schmerz im Beckenbereich habe das Aufstehen unmöglich gemacht. Deswegen sei der Krankentransport erforderlich gewesen.

Es erfolgte eine konventionelle Röntgenuntersuchung des Beckens. Dies zeigte sowohl eine untere wie auch eine obere Schambeinastfraktur. Radiologisch war der vordere Hüftpfannenpfeiler rechts nicht betroffen. Zusätzlich zeigte sich rechtsseitig nahe der Schambeinfuge eine röntgendichte Verschattung, die als ausgeheilte Fraktur interpretiert wurde. Am gleichen Tag erfolgte eine CT-Untersuchung. Hier wurden knöcherne noch nicht konsolidierte Frakturen des rechtseitigen oberen und unteren Schambeinasts nachgewiesen. Ferner handelte es sich um den Zustand nach knöchern konsolidierter Verletzung des rechten Kreuzbeins.

Vom niedergelassenen Chirurgen/Orthopäden wurde das Ödem im Musculus iliopsoas als direkte Beteiligung des Muskels durch das Trauma am hinteren Beckenring bewertet. Am 9. April erfolgte nochmals eine AP-Röntgenuntersuchung des Beckens. Hier zeigte sich am unteren rechten Schambein eine wolkige Kallusbildung ohne grobe Fehlstellung. Am oberen Schambeinast stellte sich am Übergang zur Hüftpfanne eine diskrete Stufenbildung dar.

Beanstandung der ärztlichen Maßnahmen

Der festgestellte Beckenbruch sei auf den Unfall vom 20. November zurückzuführen. Das in Anspruch genommene Klinikum bestreite ein fehlerhaftes ärztliches Verhalten. Es wurde behauptet, bei der klinischen Untersuchung sei ein Druckschmerz im Bereich der oberen Lendenwirbelsäule mit Ausstrahlung in beide Leisten sowie beide Hoden festgestellt worden. Die Röntgenaufnahmen der Lendenwirbelsäule und eine kernspintomographische Untersuchung der LWS hätten keinen Nachweis auf frische knöcherne Verletzungen ergeben.

Gutachten

Der unfallchirurgisch-orthopädische Gutachter führt aus, dass keine Angaben zu Verletzungszeichen an der rückwärtigen Lendenwirbelsäule/Beckenregion und zum Umfang der klinischen Untersuchung zur Verfügung ständen. Es seien keine Angaben zu einer klinischen Untersuchung des Beckens hinterlegt. Aufgrund der im D-Arztbericht dokumentierten Anamnese mit ziehenden Leisten- und Hodenschmerzen hätte eine klinische Untersuchung sowohl der Lendenwirbelsäule als auch der Beckenregion erfolgen müssen. Aufgrund der im März durchgeführten Röntgendiagnostik des Beckens sei ausgeschlossen, dass eine klinische Untersuchung mit Palpation und Kompression des Beckenrings sowie eine Untersuchung der Hüftgelenke keine Hinweise auf eine Verletzung des Beckens ergeben hätten. Außer einer derart sachgerechten Untersuchung hätte sich mit sehr großer Wahrscheinlichkeit die Notwendigkeit einer konventionellen Röntgendiagnostik, gegebenenfalls mit erweiterter Schnittbilddiagnostik ergeben. Durch die Unkenntnis der knöchernen Beckenverletzung habe sich durch die forcierte Frühbelastung und nachfolgende frühzeitige ambulante Weiterbehandlung keine nachteilige Auswirkung ergeben. Es seien jedoch einige Behandlungsmerkmale der Physiotherapie/Krankengymnastik des BG-Heilverfahrens vorenthalten worden. Stärkere Schmerzen hätten in Kenntnis der knöchernen Verletzung durch eine Anpassung der Belastungsintensität vermieden werden können.

Zu den Fragen der Schlichtungsstelle führt der Gutachter aus, dass die diagnostischen Maßnahmen in der Zeit vom 20. bis 28. November nicht ausreichend gewesen seien. Aufgrund des Unfallhergangs und der geschilderten Beschwerden hätte eine fachgerechte klinische Untersuchung der LWS, der Becken- und Hüftregion erfolgen müssen. Aufgrund der bildgebenden Diagnostik wären die knöchernen Verletzungen des Beckenrings identifiziert worden. Eine Operationsindikation hätte sich daraus nicht ergeben. Als allein fehlerbedingt führt der Gutachter aus, dass Training von Kraft, Stabilität und Koordination den klinischen Heilverlauf möglicherweise verkürzt und dem Patienten eine schmerzärmere Wiederaufnahme der beruflichen Tätigkeit ermöglicht hätte.

Bewertung der Haftungsfrage

Bei dem Patienten kam es am 20. November durch einen Sturz zu einer rechtsseitigen Beckenringfraktur. Aufgrund der vom Patienten angegeben Beschwerden und der im D-Arztbericht dokumentierten Schmerzen, ziehend in beide Leisten, hätte eine sorgfältige klinische Untersuchung die Indikation zur Röntgenuntersuchung und eventueller Schnittbilduntersuchung ergeben. Dabei wäre die rechtsseitige Beckenringfraktur diagnostiziert worden. Eine entsprechende konservative Behandlung mit adaptierter Analgesie und Teilentlastung wäre eingeleitet worden. Eventuell wäre eine sogenannte EAP (erweiterte ambulante Physiotherapie) durchgeführt worden. Es kann nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit gesagt werden, dass es zu einer schnelleren Heilung der Fraktur gekommen wäre.

Gesundheitsschaden

Bei korrektem Vorgehen wäre nach ärztlicher Erfahrung mit folgendem Verlauf zu rechnen gewesen: Nach zeitnaher Diagnostik der Beckenringfraktur wäre eine entsprechende analgetische Therapie eingeleitet worden sowie eine Mobilisation mit Teilbelastung unter krankengymnastischer Anleitung.

Durch das fehlerhafte Vorgehen ist es zu folgenden zusätzlichen Gesundheitsbeeinträchtigungen gekommen:

Aufgrund der Unkenntnis der knöchernen Beckenverletzung erlitt der Patient in der Zeit vom 20. November bis zum 24. März des darauf folgenden Jahrs vermehrt Schmerzen mit dadurch bedingter Einschränkung der Beweglichkeit.

Fazit

Grundregel in der Unfallchirurgie: Unfallhergang und Symptome des Patienten erfragen!

Autoren:

Kerstin Kols, Ass. jur.

Dr. med. Peter Hoyer

Facharzt für Unfallchirurgie/Orthopädie
Ärztliches Mitglied
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover