Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Diagnostische Tücken bei Schnitt- und Stichverletzungen an den Extremitäten

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 11/2002

Kasuistik

Das Gros dieser Verletzungen betrifft zwar zwangsläufig die Hand. Eine relativ hohe Zahl an Schlichtungsverfahren muß sich mit nicht erkannten bzw. nicht ausreichend diagnostizierten und daher auch nicht ordnungsgemäß behandelten Handverletzungen befassen.

Es ist keine neue Erkenntnis, daß gerade an der Hand wesentliche anatomische Leitgebilde infolge ihrer exponierten Lage und auch ihrer hohen Beanspruchung bei scharfen und spitzen Verletzungen in Mitleidenschaft gezogen werden können. Infolgedessen sind Verletzungen der Sehnen, Nerven und weniger der Gefäße, aber auch Eröffnungen von Gelenken keine Seltenheit. Sie müssen aus guten Gründen erkannt werden. Für die Überprüfung der Sensibilität hat sich besonders das Ergebnis der 2-Punkte-Diskrimination bewährt. Zusätzlich ist auch bei möglichem Vorliegen von Nervenverletzungen die Untersuchung der motorischen Kennmuskeln erforderlich, d. h. des adductor pollicis bei Ulnarisverletzungsverdacht und der Thenarmuskulatur, insbesondere des abductor pollicis bei Medianusverletzungen. Ansonsten gibt es auch bei der Überprüfung von motorischen Ausfällen eindeutige Untersuchungsmethoden zur Differenzierung z. B. bezüglich der Durchtrennung einer oberflächlichen oder einer tiefen Beugesehne. Diese sind jedem unfallchirurgischen oder handchirurgischen Lehrbuch zu entnehmen.

Jede Verletzung der Finger und auch in der Nähe von Leitnerven muß den erstbehandelnden Arzt an die Möglichkeit einer Mitbeteiligung „edler“-Strukturen denken lassen. Es sind ja nicht immer Fachärzte, die im Rahmen der Notfallbehandlung tätig werden und die somit eine besondere Verantwortung tragen.

In den ärztlichen Aufzeichnungen findet man häufig den leider keineswegs immer durch ausreichende Untersuchung untermauerten Hinweis „DMS intakt“, was besagen soll, daß Durchblutung, Motorik und Sensibilität unbeeinträchtigt sind.

Mag die Durchblutung noch am ausreichenden Gewebsturgor, Hautfarbe und retrogradem Blutfluß sicher beurteilbar erscheinen, ist die Prüfung der Sensibilität gerade bei jüngeren, ängstlichen Patienten oft unsicher, insbesondere auch unter Berücksichtigung der Schock- oder Streßsituation für den Patienten.

Auch die Prüfung der Motorik findet ihre Grenzen, wenn erhaltene Sehnenreste eine noch vorhandene Beweglichkeit und damit scheinbare Unversehrtheit vortäuschen.

Die Konsequenz muß sein, bei offenen Verletzungen, insbesondere an den Beugeseiten der Finger und in der Nachbarschaft großer Nervenstämme unter Anästhesiebedingungen und in der unverzichtbaren Blutleere die Wunde zu beurteilen und sorgfältig zu inspizieren, verletzte Nerven zu erkennen, ebenso wie eröffnete Sehnenscheiden, die ein erster Hinweis auf eine Beugesehnenverletzung sein können. Wenn dies der Fall ist, muß durch Bewegen des Fingers oder Handgelenkes der Sehnenverlauf inspiziert werden, da die allermeisten Sehnenein- oder Durchtrennungen unter Anspannung derselben, d. h. bei den Beugesehnen in Beugestellung der Finger eintreten, wodurch die Sehnenverletzung dann peripher der Wunde liegt. Dann kann eine sachgemäße Versorgung vorgenommen bzw. der Patient einem Handchirurgen zugeführt werden. Wenn diese diagnostische Abklärung unterbleibt, wird das Schadenausmaß oft erst viel später festgestellt, zu einem Zeitpunkt, wo die Wiederherstellung von Sehnen und Nerven erschwert und daher weniger erfolgreich ist.

Dieses mögen zwei Schlichtungsfälle aus den letzten Jahren verdeutlichen:
Fall 1
Ein 57-jähriger Mann verletzte sich am 03.06.2000 mit einem Stechbeitel am linken Daumenballen. In einer Kliniknotaufnahme stellte man eine 7 cm lange längsverlaufende klaffende Wunde am linken Daumenballen fest. Ärztlicherseits wurde erkannt, daß Daumen und Langfinger frei beweglich waren. Es wurde lediglich eine adaptierende Hautnaht vorgenommen und eine antibiotische Behandlung in die Wege geleitet. Trotzdem entwickelte sich schon bald eine Wundinfektion, wodurch sich etwaige rekonstruktive Maßnahmen zusätzlich verzögerten. Die Vorstellung bei einem Handchirurgen ergab eindeutige Hinweise auf eine Durchtrennung der langen Daumenbeugesehne und es erfolgte daher in einer anderen Klinik eine stationäre Behandlung im Oktober 2000. Dabei fand sich eine veraltete Durchtrennung der FPL-Sehne; eine Direktvereinigung war nicht mehr möglich und man führte in zwei Eingriffen eine Rekonstruktion der Sehne in Form einer Sehnentransplantation durch. Am Ende der Behandlung betrug die Beugefähigkeit des Endgelenkes etwa 30 Grad.

Der Gutachter bewertet die ärztlichen Maßnahmen dahingehend, daß bei sorgfältiger Diagnostik, insbesondere durch Inspektion des Wundgrundes, notfalls durch Schnitterweiterung, die Sehnenverletzung primär hätte erkannt werden müssen. Es hätte dann die Chance bestanden, die Verletzung sofort adäquat zu versorgen und damit auch ein besseres Ausheilungsergebnis zu erreichen. Auch wenn man unterstellt, daß das Ausheilungsergebnis bei Sehnentransplantation hier insgesamt akzeptabel war, muß doch als Fehlerfolge eine stärkere Beugebehinderung des Handgelenkes und eine ausgedehntere Narbenbildung im Bereich der Hand und auch der Spenderregion am Fuß festgestellt werden. Auch hat sich die Behandlungsdauer um drei bis vier Monate verlängert mit einer länger anhaltenden Gebrauchsminderung der Hand.

Fall 2
Ein 14-jähriger Junge erlitt Ende Juni 2000 eine große Schnittverletzung der rechten Hohlhand an einer zerbrochenen Glasscheibe. Bei der Erstversorgung in einer Kinderchirurgischen Klinik fand sich eine 10 cm lange Wunde zwischen Daumen und Kleinfingerballen. Dabei fielen am Kleinfingerballen die Durchtrennung oberflächlicher Muskelanteile auf. Die Fingerbeugung war ohne Einschränkung. Die Sensibilität wurde als weitgehend intakt beschrieben, jedoch wurde ein Taubheitsgefühl am Kleinfinger beugeseitig vom Patienten beschrieben. Es wurde eine kurzfristige Revision und Wundversorgung in Allgemeinnarkose durchgeführt. Bei der Operation stellte man fest, daß eine Reihe kleiner Handmuskeln sowie das Retinaculum flexorum mitverletzt waren. Eine Verletzung des Ellennerven wurde trotz bestehender Gefühlsstörungen im Kleinfinger nicht gefunden und im OP-Bericht wurde eine Revision des Nervus und der Arteria ulnaris nicht beschrieben.

Der nachbehandelnde Arzt äußerte den Verdacht auf eine Verletzung des N. ulnaris. Dieser Verdacht ließ sich neurologischerseits bestätigen. Daraufhin erfolgte Ende August eine erneute Diagnostik in der erstversorgenden klinischen Einrichtung und es wurde dort dann eine Revision des N. ulnaris durchgeführt, wobei sich der Ramus superficialis und profundus des Nerven als durchtrennt erwiesen und eine Rekonstruktion beider Nervenäste nur durch interfaszikuläre Naht mit einem Nerventransplantat vom Unterschenkel erreichen ließ. Im Zusammenhang mit der fünfstündigen Operation kam es darüber hinaus zu Druckerscheinungen an Hinterkopf und Ferse, die aber spontan ausheilten. Der Gutachter kommt in seiner Bewertung zu dem Ergebnis, daß die Erstuntersuchungstechnik nicht ausreichend war bzw. aus den erzielten Untersuchungsergebnissen – hier einer Sensibilitätsstörung auf der Beugeseite des Kleinfingers – nicht die notwendigen Schlüsse gezogen wurden. Es wurde weder die Überprüfung der Motorik des adductor pollicis, also des Kennmuskels des N. ulnaris vorgenommen noch intraoperativ eine Darstellung der Nervenäste des N. ulnaris. Es bestand aber die Verpflichtung, im vorliegenden Fall entweder im Rahmen der Erstversorgung den N. ulnaris zu überprüfen und ihn zu versorgen oder alternativ eine verzögert primäre Versorgung durchzuführen. Im vorliegenden Fall wurde aufgrund der Nichterkennung der Nervenverletzung letztlich erst acht Wochen nach dem Unfall eine Revisionsoperation durchgeführt. Zu diesem Zeitpunkt war eine End-zu-End-Naht der Nervenstümpfe nicht mehr möglich und es mußte eine Nerventransplantation vorgenommen werden. Insofern war die operative Rekonstruktion des verletzten N. ulnaris nicht zeitgerecht. Zur Rekonstruktion wurde dann die Verwendung eines Nerventransplantates vom Unterschenkel erforderlich. Letzten Endes ist diese Rekonstruktion sachgerecht durchgeführt worden und hatte auch zu einem befriedigenden Erfolg zumindest in der ersten postoperativen Phase geführt. Als Folgen des erwähnten Behandlungsfehlers sind eine Nerventransplantation erforderlich geworden und ein Sensibilitätsausfall und Narben im Bereich der rechten Wade entstanden. Durch das primäre Übersehen der N.-ulnaris-Verletzung ist eine Behandlungsverlängerung um 8 bis 9 Wochen eingetreten.

In beiden Fällen war von vermeidbaren Behandlungsfehlern auszugehen. Die Schlichtungsstelle empfahl Schadenersatzleistungen auf dem Wege außergerichtlicher Regulierung.

Autoren:

GH

Dr. med. G. Herlyn

Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover