Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 08/2006
Kasuistik
Im Rahmen des kassenärztlichen Notdienstes wird ein Allgemeinarzt zu einem übergewichtigen 18-jährigen Patienten zum Hausbesuch gerufen, da der Patient über Schmerzen im linken Bein und dem gleichseitigen Bauchraum klagte. Der Patient hatte sich 14 Tage vorher einer Blinddarmentfernung unterziehen müssen. Nach Darstellung der Patientenseite habe der Notarzt Schmerzen von der Niere ausgehend diagnostiziert und dem Patienten eine Spritze verabreicht. Mangels Besserung wurde er am Folgetag erneut zu dem Patienten gerufen und habe nunmehr einen „eingeklemmten Nerv“ diagnostiziert. Ein Oberschenkel des Patienten sei zu diesem Zeitpunkt angeschwollen gewesen, was jedoch von dem zu Hilfe gerufenen Allgemeinarzt nicht beachtet worden sei. Schließlich zwei Tage später der Hausarzt wieder erreichbar, der eine sofortige stationäre Einweisung veranlaßte. Im Krankenhaus wurde eine linksseitige Bein-Beckenvenenthrombose festgestellt.
Der tätig gewordene Allgemeinarzt schildert in seiner Stellungnahme, für eine Thrombose hätten sich keinerlei Anhaltspunkte ergeben und zwar weder bei dem ersten noch bei dem zweiten, einen Tag später erfolgten Hausbesuch. Als Hauptdiagnose habe er eine linksseitige Ischialgie angenommen.
Der Gutachter erkennt in der Fehldiagnose einen vermeidbaren ärztlichen Fehler. Angesichts der vorausgegangenen Operation und des Übergewichts des Patienten hätte nach Auffassung des Gutachters die Möglichkeit einer Thromboseerkrankung in Betracht gezogen werden müssen. Der Gutachter vermißt hierzu in der Dokumentation des notärztlich tätig gewordenen Allgemeinarztes einen Hinweis darauf, daß zumindest die Möglichkeit einer Thrombose in Betracht gezogen wurde.
Eine übersehene Beinvenenthrombose gehört zu den häufigen in der Schlichtungsstelle registrierten vermeidbaren Fehlern im allgemeinärztlichen Bereich. Typischerweise, so auch hier, wird die Diagnose auch bei einer Zweit- bzw. Folgekonsultation nicht gestellt, obwohl die vermutete Krankheit nur unzureichend auf die Behandlung angesprochen hat und die Beschwerden zugenommen haben. Legt man die Häufigkeiten entsprechender Fälle in der Schlichtungsstelle zugrunde, drängt sich der Eindruck auf, daß die Möglichkeit einer Venenthrombose von Allgemeinärzten zu selten in Betracht gezogen wird.
Die Konsultation des kassenärztlichen Notdienstes erfolgte aufgrund von Schmerzen im linken Bein. Aktenkundig liegen mindestens zwei prädisponierende Faktoren für das Auftreten einer Phlebothrombose vor, die Adipositas des Patienten und der postoperative Zustand nach Appendektomie.
Strittig bleibt die Umfangsdifferenz der Beine. Während der Patient eine solche beschreibt, wird dies vom behandelnden Arzt bestritten und findet sich auch nicht dokumentiert.
Durch Anamnese und klinische Untersuchung werden nur ca. 50 % aller Beinvenenthrombosen erkannt. Typischerweise würde man die Trias Schwellung, Überwärmung und Zyanose erwarten. Weiterhin gehören zu der Untersuchung die Prüfung des Meyer’Zeichen, also des manuellen Wadendruckschmerzes, des Homanns’Zeichen mit Wadendruckschmerz bei Dorsalflexion des Fußes sowie des Payr’Zeichen, hier löst Druck auf die Fußsohle Fußsohlenschmerzen aus.
Aber diese klinischen Zeichen einer Thrombose sind, wie erwähnt, mit einer Treffsicherheit von 50 % nicht verläßlich. Ihr Fehlen schließt eine Thrombose folglich nicht aus (Dietel et al.2003).
Der Fall unterstreicht einmal mehr die Notwendigkeit sachgerechter Dokumentation auch bzw. gerade im kassenärztlichen Notdienst. Entscheidend ist, daß Symptomatik, Untersuchungsbefunde und Therapie nachvollziehbar dargestellt werden. Insbesondere sollten gravierende Differentialdiagnosen mit entsprechend negativen Befundhinweisen vermerkt werden. Nur so kann später nachvollzogen werden, daß diese Möglichkeit überhaupt in Betracht gezogen wurde. Somit wird auch plausibel, daß offenbar keine typischen Hinweise hierfür gefunden wurden.