Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Differenzialdiagnose der Demenz

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 05/2006

Einleitung
Durch die Zunahme unseres durchschnittlichen Lebensalters, durch die Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte, aber auch wegen der großen sozialmedizinischen Bedeutung spielt das Krankheitsbild der Demenz heute eine große Rolle. Vergessen wird dabei leicht, dass neben den großen Gruppen der kortikalen und subkortikalen degenerativen Demenzen (Alzheimer, Pick u.a.) und der vaskulären Demenz differentialdiagnostisch auch Demenzsyndrome endokriner (z.B. Hypothyreose), stoffwechselbedingter (M. Wilson u.a), infektiös-entzündlicher (HIV oder Borrelliose u.a.), und toxischer (Alkohol und Medikamente u.a.) Genese eine Rolle spielen, ebenso auch bei Hirndruck (Tumor, Hydrozephalus) sowie bei pseudodementiellen Syndromen wie z.B. bei depressiven Syndromen u.a.. Ein solches Beispiel, das die Notwendigkeit einer frühen Differentialdiagnose exemplarisch aufzeigt, sei hier vorgestellt.

Kasuistik

Bei dem bis zu seinem 60. Lebensjahr als Lehrer und zuletzt als Dozent in der Erwachsenenbildung tätigen Patienten traten 1 Jahr später zunehmende Wortfindungsprobleme zusammen mit Antriebsminderung und Gleichgültigkeit sowie zunehmender Orientierungsstörung auf. Nach einigen Monaten sprach die Ehefrau diese Probleme beim Hausarzt an, der eine Überweisung zu einem Neurologen ausschrieb, der der Patient aber nicht nachkam. Gleichzeitig stellte der Hausarzt ein Rezept für ein Durchblutungspräparat aus, das über drei Monate eingenommen wurde. Als die Ehefrau den Hausarzt nach anderen Therapiemöglichkeiten bei fehlender Besserung fragte, wurden in der Praxis 10 Infusionen mit Piracetam verabfolgt und diese Behandlung anschließend oral weitergeführt. Eine persönliche Untersuchung erfolgte durch den Hausarzt nicht. Etwa ½ Jahr nach Ausstellung der Überweisung durch den Hausarzt kam es bei einem Saunabesuch zu einem Blackout, der dem Hausarzt mitgeteilt wurde, gleichzeitig aber auch Anlaß war, einen Facharzt aufzusuchen. Dieser hielt eine klinische Diagnosefindung für notwendig, wobei von ihm zunächst eine Alzheimer-Erkrankung in das Gespräch gebracht wurde. In der Neurologischen Klinik fand sich als Ursache der Symptome ein linksfrontales Meningeom mit ausgeprägtem perifokalem Ödem, Mittellinienverlagerung und beginnender Blockade des Foramen Monroe. Operativ ergab sich ein anaplastisches Meningeom mit Zeichen maligner Entartung, weshalb eine Radiotherapie angeschlossen wurde. Postoperativ keine neurologischen Ausfälle, auch die Hirnleistungsstörung bildete sich weitgehend zurück.

Der Vorwurf des Patienten an den Hausarzt lautet, ihn mit falschen Medikamenten behandelt sowie eine Verzögerung bzw. das Nichtstellen der Diagnose eines Hirntumors mit der Folge einer postoperativen Radiotherapie wegen Entartung des Tumors zu verantworten zu haben.

Der Hausarzt führt in seiner Stellungnahme an, dass die Ehefrau des Patienten stets mit festen Vorstellungen zur Behandlung in seine Sprechstunde gekommen sei, aufgebaut auf sachkundigen Informationen ihr bekannter Fachärzte. So habe sie auch zu Beginn der Symptomatik eine Überweisung für ihren Mann (in seiner Abwesenheit) zu einem Neurologen wegen zunehmender Hirnleistungsschwäche erbeten. Diesem Wunsch sei er nachgekommen, da die Dringlichkeit mit ihren Facharztgesprächen untermauert und eine Untersuchung ihres Mannes durch ihn auch nicht erwünscht gewesen sei. Er habe die Behandlung mit hirnleistungsstärkenden Medikamenten festgelegt, bis die angestrebte Diagnostik abgeschlossen gewesen sei. Der Patient sei für ihn ein in der Nachbarstadt behandelter Patient gewesen, der ihn als Vermittler und nicht als Mediziner benutzt habe. Abschließend räumt er ein, dass seine Handlungsweise nicht konsequent genug gewesen sei, er hätte den Patienten schon ab dem Zeitpunkt, als er seiner Überweisung nicht gefolgt und sich damit keiner Diagnosefindung unterzogen habe, nicht mehr behandeln dürfen.

Das Gutachten

Nach Meinung des Gutachters war die medikamentöse Behandlung einer Hirnleistungsstörung über die Dauer von mehreren Monaten nicht indiziert. Es hätte einer neurologischen Untersuchung zur Absicherung der Diagnose bedurft. Zwar habe der Hausarzt eine Überweisung zum Neurologen ausgestellt, diese Untersuchung sei aber nicht erfolgt, weshalb der Gutachter moniert, dass der Hausarzt nicht nachhaltig auf diese Untersuchung gedrängt habe, so daß diese Untersuchung erst mit 6monatiger Verspätung erfolgte. Insofern kommt der Gutachter zu dem Schluß, dass dem Patienten eine Mitschuld an der Diagnoseverzögerung vorzuhalten sei, weshalb er den daraus entstandenen Schaden auf eine Verzögerung der Diagnose statt auf 6 nur auf 3 Monate beziffert.

Bezüglich der fehlerhaft durchgeführten medikamentösen Behandlung kommt er zu dem Schluß, dass ein Schaden aus dieser Behandlung allein nicht festzustellen sei, wenn man von den bei den Injektionen erlittenen Schmerzen absieht.

Bezüglich des Vorwurfs, dass durch die verzögerte Diagnostik der Tumor nicht habe vollständig entfernt werden können und aus diesem Grund eine Strahlentherapie erforderlich geworden sei, stellt der Gutachter aufgrund der vorliegenden Unterlagen fest, dass das anaplastische Meningeom habe operativ vollständig entfernt werden können. Bei der vorliegenden Histologie sei es aber die Regel, dass bei diesem als teilweise bösartig zu klassifizierenden Tumor eine Nachbestrahlung erforderlich sei, auch bei vollständiger Entfernung.

Insgesamt kommt der Gutachter zu dem Schluß, dass durch die zeitliche Verzögerung der Diagnose keine zusätzlichen Gesundheitsstörungen aufgetreten seien, allein die Krankheitsdauer sei fehlerbedingt verlängert worden.

Die Schlichtungsstelle

In Bezug auf die medikamentöse Behandlung sieht die Schlichtungsstelle, wie der Gutachter, einen Behandlungsfehler, der aber ohne nachweisbare Folgen geblieben sei, abgesehen von den Schmerzen bei den Injektionen.

Das gleiche gilt für den Vorwurf, dass durch die verzögerte Diagnosestellung der Tumor nicht habe vollständig entfernt werden können, wie die Radiotherapie belege: Der Tumor konnte nach den vorliegenden Unterlagen operativ vollständig entfernt werden. Eine Nachbestrahlung wird bei der vorliegenden Histologie aber regelhaft angeboten und durchgeführt. Es gibt nach Meinung der Schlichtungsstelle keinen Beleg dafür, dass das histologische Ergebnis bei einer früheren Operation anders ausgefallen wäre.

Bezüglich der schuldhaften Verzögerung der Diagnose durch den Hausarzt um 6 Monate und zur Frage des Mitverschuldens des Patienten kommt die Schlichtungsstelle im Gegensatz zu dem Gutachter zu dem Ergebnis, dass die gesamte Zeit der Diagnoseverzögerung um 6 Monate dem Hausarzt zuzurechnen sei, da in der Karteikarte des Hausarztes schon zum Zeitpunkt der Überweisung als Grund vermerkt war: „Hirnleistungsstörungen“. Bei einer Vorstellung in der Praxis sei notiert, dass der Patient über Wortfindungsstörungen klage. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte danach gefragt werden müssen, ob eine neurologische Untersuchung erfolgt sei und, falls nicht, auf die Notwendigkeit hätte hingewiesen werden müssen. Unter Zugrundlegung des Umstands, dass dem Hausarzt, soweit den schwer lesbaren Angaben in seiner Datei zu entnehmen war, weitere Beschwerden bekannt geworden waren, hätte dieser von sich aus bei dem Neurologen Erkundigungen einholen müssen und/oder die Patientenseite auf die Notwendigkeit einer neurologischen Untersuchung erneut hinweisen müssen. Aus diesem Grund tritt ein vom Gutachter angenommenes Mitverschulden des Patienten – auch unter Berücksichtigung seines damaligen Gesundheitszustandes – zurück. Daher ist nach Ansicht der Schlichtungsstelle eine Verlängerung der Behandlungsdauer von 5 Monaten, d.h. ab 4 Wochen nach dem ersten Kontakt wegen Hirnleistungsstörung, mit den in diesem Zeitraum einhergehenden Beeinträchtigungen der Lebensqualität anzunehmen. Darüber hinausgehende fehlerbedingte Gesundheitsschäden sind nicht zu konstatieren.

Autoren:

GH

Prof. Dr. med. Günter Haferkamp

Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover