Bilateral Recurrent Laryngeal Nerve Paresis after Operation of Recurrent Goiter
Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 10/2000
Kasuistik
Die Patientin war vor 14 Jahren erstmals an der Schilddrüse operiert worden in Form der beidseitigen Schilddrüsenresektion. Jetzt wurde erneut die Indikation zur Schilddrüsenoperation gestellt wegen eines großen Strumarezidivs mit Betonung der rechten Seite. Es bestand eine mäßige Atembehinderung durch Einengung der Trachea von rechts und Verdrängung derselben nach links. Der rechte Lappen hatte eine retrotracheal gelegenen Anteil. Bei der Operation wurde der rechte Schilddrüsenlappen subtotal reseziert, der linke Lappen wurde exstirpiert. Die Resektatgewichte betrugen rechts 43,3 g, links 10,5 g. Außerdem wurde ein 10,5 g schwerer Lobus pyramidalis entfernt. Im Operationsbericht wird beschrieben, daß die Präparation infolge der ausgedehnten schwieligen Vernarbungen sehr erschwert war. Die versuchte Darstellung des N. recurrens gelang weder rechts noch links. Unmittelbar nach der Operation wurde eine beidseitige N. recurrens-Lähmung festgestellt. Diese Lähmung war im weiteren Verlauf nicht rückläufig. Bis zum Zeitpunkt der Stellung des Schlichtungsantrages war noch kein Tracheostoma angelegt worden, dies wurde der Patientin aber als mögliche weitere notwendige Behandlungsmaßnahme in Aussicht gestellt. Sie leidet unter starker inspiratorischer Atembehinderung und ist köperlich nicht belastbar, es besteht Sprechunfähigkeit. Seit der Operation ist die Patientin erwerbsunfähig. Sie wandte sich mit der Bitte, die Frage des Schadenersatzes zu prüfen, an die Schlichtungsstelle.
Der von der Schlichtungsstelle beauftragte Gutachter beurteilte das operative Vorgehen wie folgt: die Operation der Rezidivstruma war wegen der mechanischen Atembehinderung indiziert. Es war richtig, die befunddominante rechte Seite zuerst zu operieren. Das operative Vorgehen war durch die vorhandenen Verwachsungen erschwert. Die subtotale Resektion war angemessen. Die postoperativ festgestellte Lähmung des rechten Stimmbandnerven mußte unter den gegebenen Umständen als unvermeidbare Komplikation angesehen werden. Dieser Schaden war durch die präoperative Risikoaufklärung gedeckt.
Anders war das Vorgehen auf der linken Seite zu beurteilen. Der linke Lappen war mit 10,5 g nur gering vergrößert. Der linke Lappen hatte nicht zur Trachealkompression beigetragen. Wenn, wie im vorliegenden Fall, nicht mit Sicherheit festgestellt werden kann, ob der N. recurrens auf der zuerst operierten Seite sicher unversehrt geblieben ist, so sollte in Anbetracht der narbig bedingten Operationserschwernis die Operation der Gegenseite zunächst unterlassen und nötigenfalls nach Feststellung der normalen Stimmbandfunktion als Zweiteingriff nachgeholt werden. Im besonderen hätte nach richtiger Einschätzung des realen Risikos einer doppelseitigen Recurrensparese die Totalentfernung des linken Lappens unterbleiben müssen. Die Indikationsstellung zur Entfernung des linken Schilddrüsenlappens war fehlerhaft. Aus dem Behandlungsfehler resultierte eine doppelseitige Stimmbandlähmung.
Von besonderer Eigenart ist im vorliegenden Falls die Bemessungsgrundlage für den Schadensersatzanspruch. Dem Operateur wird lediglich die Verletzung des linken N. recurrens als Fehler angelastet, nicht jedoch die des rechten N. recurrens. Daraus könnte formal abgeleitet werden, daß nur für die linksseitige Recurrenslähmung Schadenersatz zu leisten wäre. Dies trifft selbstverständlich nicht zu. Die doppelseitige Recurrenslähmung ist in ihrer Auswirkung auf das Befinden und die Leistungsfähigkeit nicht die einfache Summe von rechtsseitiger und linksseitiger Stimmbandlähmung, sondern hat eine eigene Qualität. Sie bedingt im Vergleich zu einer einseitigen Recurrenslähmung ein vielfaches an Beeinträchtigung der Lebensqualität und der körperlichen Leistungsfähigkeit und führt in der Regel zu Erwerbsunfähigkeit. Der Umfang des Schadenersatzanspruchs ergibt sich aus dieser sehr schweren Beeinträchtigung.
Die Schlichtungsstelle folgte insgesamt der Beurteilung durch den Gutachter. Kommentar der Schlichtungsstelle:
Schlichtungsanträge wegen postoperativer Nervus-Recurrens-Lähmung treffen immer noch regelmäßig bei der Schlichtungsstelle ein. Im Zusammenhang mit der Schilddrüsenchirurgie trifft man häufig auf Dokumentationsmängel im Operationsbericht, die zur Beweislasterleichterung für die Patienten führen, wodurch in der Regel die ärztliche Haftung begründet wird. Als „dokumentationsschwache“ Operationsberichte werden u.a. angetroffen:
- kurzgefaßte Operationsberichte von z.B. 8 Schreibenmaschinenzeilen ohne Befundbeschreibung, ohne Erwähnung des N. recurrens oder der Epithelkörperchen
- kurzgefaßte Operationsbericht in Form von Standardvordrucken oder Formularen, in die dann nur noch die Seite, die Quer- oder Längsdurchtrennung der Halsmuskulatur und das Resektatgewicht (oft nicht einmal dieses) einzutragen sind. Der N. recurrens wird in dieser Art von Operationsberichten meistens ebenfalls nicht erwähnt.
In den letzten Jahren sind zahlreiche Veröffentlichungen von kompetenten Autoren zum Thema Recurrensparese nach Schilddrüsenchirurgie bei benignen Befunden veröffentlicht worden. Man kann also davon ausgehen, daß die Chirurgen inzwischen genügend sensibilisiert sind. Die Schlichtungsstelle kann angesichts der anhaltenden Diskussion dieses Themas den derzeitigen Stand der Kenntnisse und Anforderungen in ihren Entscheidungen nicht ignorieren. An die korrekte Abfassung des Operationsberichts stellt die Schlichtungsstelle daher folgende grundsätzliche Erwartungen:
- Anatomische Beschreibung des intraoperativ festgestellten Schilddrüsenbefundes, u.a. Größe, Ausdehnungsrichtung, ggf. lobuläre Struktur, Gewebsbeschaffenheit, unerwartete Befunde, bei Rezidivstrumen Narbenverhältnisse.
- In jedem Operationsbericht ist festzuhalten, in welcher Weise der Schonung des N. recurrens und der Epithelkörperchen, für jede Seite getrennt, Rechnung getragen wurde. Die präpartorische Darstellung bzw. die elektrophysiologische Identifikation des N. recurrens ist anzustreben, die Unterlassung dieser Maßnahme im Einzelfall zu begründen.
- Bei eingetretener Recurrensparese muß aus dem zeitnah diktierten (Diktatdatum fixieren) Operationsbericht zu entnehmen sein, unter welchen den Operationsvorgang behindernden Umständen die Nervenverletzung mutmaßlich eingetreten ist.
- Bei geplanter beidseitiger Schilddrüsenresektion ist zuerst die Seite mit dem schwerwiegenderen Befund (befunddominante Seite) zu operieren. Die zweite Seite ist grundsätzlich (nicht nur bei Rezidivstrumen) nur dann in gleicher Sitzung zu operieren, wenn man sich über die Unversehrtheit des N. recurrens auf der zuerst operierten Seite Gewißheit verschafft hat durch Sichtkontrolle und/oder elektrophysiologische Funktionsprüfung. Besteht keine ausreichende Sicherheit über die Intaktheit des N. recurrens auf der zuerst operierten Seite, so muß die Operation der zweiten Seite in einer zweiten Sitzung erfolgen.
Werden nun alle diese Gesichtspunkte im Operationsbericht berücksichtigt, so kann der Gutachter den Operationsablauf schlüssig nachvollziehen. Dem Vorwurf eines Dokumentationsmangels mit der Folge der Beweislasterleichterung zugunsten des Patienten ist dann wirksam vorgebeugt.