Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 12/2011
Kasuistik
Eine 65-jährige Patientin mit eingeschränkten geistigen Fähigkeiten befand sich seit einigen Wochen wegen kardialer Insuffizienz in Behandlung eines Allgemeinmediziners. Anlässlich einer Konsultation Ende August 2007 gab sie an, sich an der Brust gestoßen zu haben. Als ärztlicher Befund wurde dokumentiert: „links pektoral pflaumengroßer Tumor, an Badtür gestoßen, Sonografie“. Die Ultraschalluntersuchung erfolgte in radiologischer Kompetenz. Es wurde ein inhomogenes, echoarmes Areal mit zentralen Luftreflexen oberhalb der linken Brust, vereinbar mit einem superinfiziertem Hämatom beschrieben. Kurzfristige Kontrollen sowie die Vorstellung beim Chirurgen wurden empfohlen. Am 8. September 2007 erhielt zunächst die Patientin und drei Wochen später auch ihre Tochter Kenntnis von dem Befund. Dazu heißt es in den Unterlagen: „Hämatom entzündlich?, will abwarten, geht nicht zum CT“.
In den folgenden fünf Monaten finden sich in der Dokumentation keine ärztlichen Eintragungen zum Tumorbefund. Erst am 6. März 2008 wurde notiert: „Tumor verwachsen, Größe zugenommen, keine chirurgische Vorstellung.“ Nach weiteren viereinhalb Monaten wurde der Tumor Ende Juli 2008 als tiefsitzend und schlecht verschieblich beschrieben und nochmals die dringliche Empfehlung zu einer chirurgischen Konsultation ausgesprochen.
In den folgenden neun Monaten sind der Dokumentation wiederum keine Einträge über den Tumorbefund an der linken Brust zu entnehmen. Erst am 10. Mai 2009 erfolgte dann eine Vorstellung beim Gynäkologen. Ende Mai wurde dann ein fortgeschrittenes Mammakarzinom (T4) festgestellt. Mit der späteren Option zum operativen Vorgehen erfolgte zunächst eine neoadjuvante Chemotherapie mit dem Ziel der Tumorverkleinerung.
Die Tochter der Patientin wirft dem behandelnden Arzt vor, innerhalb von zwei Jahren den Brustkrebs bei der Mutter nicht erkannt zu haben. Es sei ihr nur vermittelt worden, dass es sich um ein Hämatom handeln würde, dessen Verlauf abgewartet werden sollte. Gespräche über Kontrollen und die notwendige Konsultation eines Chirurgen hätten nie stattgefunden. Die eingeschränkten geistigen Fähigkeiten der Mutter wären dem Arzt bekannt gewesen.
Der in Anspruch genommene Arzt wies die Vorwürfe zurück. Die Patientin sei nicht bereit gewesen, sich einem Chirurgen zur weiteren Klärung vorzustellen. Er habe der Tochter deutlich gemacht, dass er über die Harmlosigkeit des Befunds anders denken würde als die Mutter.
Gutachten
Der von der Schlichtungsstelle beauftragte Gutachter des Fachgebiets Allgemeinmedizin kam zu folgenden Kernaussagen:
Wenn man die Kriterien der Diagnostik des Mammakarzinoms zugrunde lege, dann sei die Behandlung der Antragstellerin nur zum Teil nach den Regeln der ärztlichen Heilkunde erfolgt. Nach Kenntnis des sonografischen Befundes hätte der Arzt als ergänzende Untersuchung eine Mammografie veranlassen müssen. Der etwas irreführende Hinweis der Patientin auf einen „Stoß an der Brust“ dürfe bei einem tastbaren Knoten an der Brust keine Berücksichtigung finden. Die in den ärztlichen Unterlagen dokumentierte Ablehnung weiterer diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen durch die Antragstellerin spiele bei der Verschleppung der Diagnose eine große Rolle. Ein eindeutiger Fehler des behandelnden Arztes sei nicht festzustellen. Es ließe sich allerdings darüber streiten, ob der Arzt seine Informationstaktik hätte verstärken müssen.
Entscheidung der Schlichtungsstelle
Die Schlichtungsstelle konnte der gutachterlichen Einschätzung bezüglich der Fehler- und Haftungsfrage nicht folgen und gelangte abweichend zu folgender Bewertung des Sachverhalts:
Ein Allgemeinmediziner ist im Falle eigenständig eingeleiteter Maßnahmen zur Klärung eines Brustbefunds gehalten, sich am geltenden medizinischen Standard zu orientieren. Hier gilt im Konsens mit den entsprechenden Fachgesellschaften bei der bildgebenden Diagnostik eindeutig die Priorität der Mammografie. Die Sonografie ist hingegen eine adjuvante Methode und sollte bevorzugt bei unklaren mammographischen Befunden eingesetzt werden (BI-RADS 0, III, IV und V). Diese Situation war bei der Antragstellerin nicht gegeben.
Spätestens bei der Konsultation der Patientin am 6. März 2008, als der Tumor an Größe zugenommen hatte, konnte nicht länger an der Diagnose Hämatom festgehalten werden. Zu diesem Zeitpunkt bestand nach Befundlage dringender Verdacht auf ein Karzinom und damit Handlungsbedarf. Hier wäre der Arzt in der Pflicht gewesen, Antragstellerin und Tochter mit deutlichen Worten auf die Gefahr einer Krebskrankheit hinzuweisen und zugleich eine zielführende Diagnostik (Mammografie, Stanzbiopsie) zu veranlassen. Die Alternative wäre eine Überweisung in fachgynäkologische Kompetenz gewesen. Den zeitnahen Aufzeichnungen des Arztes sind derartige Maßnahmen nicht zu entnehmen. Die Begriffe „Brustkrebs“ oder „Mammakarzinom“ als Verdachtsdiagnose tauchen an keiner Stelle in der ärztlichen Dokumentation auf. Das Unterlassen weiterer diagnostischer Schritte bei klinisch dokumentierter Progredienz des linksseitigen Mammatumors der Antragstellerin wird somit als vermeidbar fehlerhaft angesehen.
Unter der Prämisse, dass Anfang März 2008 die richtige Diagnose eines Karzinoms hätte gestellt werden können, ist es fehlerbedingt zu einer Verzögerung der adäquaten Behandlung der Patientin von etwa 15 Monaten gekommen. Jede Diagnose- beziehungsweise Therapieverzögerung eines Krebsleidens bedeutet eine statistische Prognoseverschlechterung, die allerdings nicht verbindlich für das individuelle Schicksal der Betroffenen eingeschätzt und beziffert werden kann.
Somit ist eine negative Beeinflussung des Krankheitsverlaufs und des Ausmaßes der Therapie durch den verspätet erfolgten Behandlungsbeginn nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit zu beweisen. Doch ist die vermehrte psychische Belastung durch das Wissen um die Behandlungsverzögerung infolge der schuldhaft verzögerten Krebserkennung und eine gesteigerte Metastasenangst als vermeidbare Gesundheitsbeeinträchtigung zu bewerten und stellt einen immateriellen Schaden dar.
Es wurde insoweit eine außergerichtliche Regulierung von Schadenersatzansprüchen empfohlen.