Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Facialisparese sowie Verlust von Gehör- und Gleichgewichtsfunktion nach fehlerhafter Mittelohroperation

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 02/2007

Kasuistik

Die 49jährige Patientin unterzog sich einer Ohroperation links. Der Eingriff erfolgte wegen einer chronischen Ohreiterung mit zunehmender Hörverschlechterung. Es bestand der Verdacht auf ein Mittelohrcholesteatom.

Unter der Diagnose „chronisch-granulierende epitympaneale Otitis media mit Mastoiditis“ erfolgte die sanierende retroauriculäre Radikaloperation. Aus dem OP-Bericht geht hervor, daß nach Freilegen des Planum mastoideum die hintere Gehörgangswand abgebohrt wurde. Das Vordringen bis zu den ersten Zellen sei mühsam gewesen. Ein Teil der Kortikalis mußte aufgebohrt werden. Die Warzenfortsatzzellen selbst waren mit verdickter Schleimhaut und Granulationen gefüllt. Es erfolgte das Ausbohren des Warzenfortsatzes bis zum Erreichen der sogenannten Brücke. Die Übersicht gestaltete sich durch den sklerosierten Knochen schwierig. Bei der Glättung der Knochenhöhle mit dem Bohrer kam es zu einer Verletzung des Nervus facialis am Facialissporn.

Im Aufwachraum fiel die Facialisparese links sofort auf. Die Patientin wurde daraufhin in die benachbarte Universitäts-HNO-Klinik verlegt. Dort erfolgte 24 Stunden später die Revisionsoperation. Im Rahmen dieses Eingriffs wurde die Radikalhöhle erweitert. Es zeigte sich, daß die Gehörknöchelchenkette zerstört war. Der Nervus facialis war peripher des Steigbügels rupturiert. Es fehlte die Kontinuität über eine Distanz vom einem Zentimeter. Der horizontale Bogengang war aufgebohrt, das Vestibulum konnte eingesehen werden. Der verletzte Nerv wurde mittels eines Interponats aus dem Plexus cervicalis versorgt, das geöffnete Labyrinth abgedeckt. Postoperativ zeigte sich eine kontinuierliche Abnahme des Gehörs bis zur Ertaubung.

Der von der Schlichtungsstelle beauftragte Gutachter stellte fest

Bei einem Cholesteatom sei eine operative Sanierung zwingend. Die vom Operateur angestrebte Sanierung des Cholesteatoms über Anlage einer sogenannten Radikalhöhle wäre eine zuverlässige Methode, um die vollständige Drainage des Mastoids zum äußeren Gehörgang hin zu gewährleisten.

Die Operationsvorbereitung sei ausreichend und korrekt gewesen. Der Operateur hätte sich präoperativ vergewissert, daß ein epitympanales Cholesteatom vorlag. Eine entsprechende Röntgenuntersuchung wurde veranlaßt.

Zu den Grundprinzipien der Mittelohrchirurgie gehöre es, Strukturen, wie Nervus facialis und lateraler Bogengang, die erhalten werden sollen, frühzeitig zu identifizieren, um so die Gefahr einer Verletzung gering zu halten. Bei der Operation eines Cholesteatoms sei in Abhängigkeit von der Größe zunächst in die oberflächlichen Schichten vorzudringen, danach wären die tieferliegenden anatomischen Landmarken darzustellen.

Diese Landmarken seien für die erforderliche Mastoidektomie das Planum mastoideum und die Spina suprameatum. Nach einem weiteren Aufschleifen der Mastoidzellen wäre die Identifikation des Antrums mit horizontalem Bogengang und kurzem Amboßfortsatz notwendig. Wenn der Operateur den Weg zum Antrum verliere, werde der Bohrer zu tief angesetzt und es könne zu einer Verletzung des Nervus facialis in seiner mastoidalen Verlaufsstrecke kommen. Die häufigste Verletzung des Nervus facialis liege im Bereich des zweiten Facialisknies, wo der Nerv aus seiner horizontalen tympanalen Verlaufsstrecke in das vertikale Segment übergeht.

Der Gutachter stellte bei der Prüfung des OP-Berichtes fest, daß die den Eingriff charakterisierenden Landmarken vom Operateur nicht identifiziert wurden. Die im Bericht erwähnte sogenannte Brücke sei keine chirurgisch relevante Landmarke. Der als „Brücke“ bezeichnete knöcherne Trommelfellrahmen hinten und oben stelle keine sichere Lagebeziehung zum lateralen Bogengang und zum Nervus facialis dar.

Auch die wichtige chirurgische Landmarke „Gehörknöchelchen“ sei im OP-Bericht nicht erwähnt worden. Die vom Operateur durchgeführte Heruntersetzung der hinteren Gehörgangswand ohne Identifikation der vorgenannten Landmarken sei fehlerhaft.

In Folge dessen wäre es bei unkontrolliertem Bohren in die Tiefe zur Verletzung des Nervus facialis im Bereich des zweiten Facialisknies sowie zur Eröffnung des lateralen Bogenganges gekommen. Bei sorgfältigem Vorgehen und Kenntnis der entsprechenden Landmarken und deren Identifizierung wären die eingetretenen Verletzungen sicher vermeidbar gewesen.

Als Folge des nicht korrekt durchgeführten Eingriffs kam es zur Durchtrennung des N. facialis und damit kompletter Facialisparese sowie zum Verlust der Gehör- und Gleichgewichtsfunktion des linken Ohres.

Es wurde versucht, die Verletzung des Nervus facialis durch ein Nerveninterponat zu korrigieren. Durch das Interponat kann es zu einer Verbesserung des Zustandes kommen. Doch muß man auch mit persistierender Lähmung und Defektheilung rechnen. Der Ausfall des peripheren Vestibularorgans kann nach entsprechendem Schwindeltraining in unterschiedlich langen und nicht vorhersehbaren Zeiträumen teilweise oder vollständig kompensiert werden. Die einseitige Ertaubung ist endgültig.

Die Schlichtungsstelle kam zu folgender Bewertung

Die sanierende Ohroperation mit Ausräumung des Mastoids und Anlage einer Radikalhöhle bei vorliegendem Mittelohrcholestatom war indiziert. Der Eingriff wurde vom Operateur nicht fachgerecht durchgeführt. Die wichtigen Landmarken zur erforderlichen topographischen Orientierung wurden im OP-Bericht nicht beschrieben. Durch fehlerhaftes Operieren kam es zu einer Verletzung des Nervus facialis und zur Eröffnung des Labyrinths.

Als fehlerbedingte Gesundheitsbeeinträchtigungen sind die Lähmung des Nervus facialis, die Ertaubung des operierten Ohrs und ein Ausfall des Gleichgewichtsorgans auf der betreffenden Seite zu qualifizieren. Diese Ereignisse wären bei korrektem Vorgehen vermeidbar gewesen.

Die Schlichtungsstelle hielt im vorliegenden Fall Schadensersatzansprüche für begründet und empfahl, eine außergerichtliche Regulierung zu prüfen.

Autoren:

KK

Dr. med. Klaus Küttner, Privatdozent

Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover