Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 09/2005
Einleitung
Die Vorstellung, daß man bei der konservativen Behandlung einer Oberarmkopffraktur beim alten Menschen, unabhängig von der Frakturform, keinen Fehler machen könne, gehört längst der Vergangenheit an. Unter dem Aspekt des Anstrebens der Gewährleistung einer weitgehenden Selbstversorgung sollten Oberarmkopffrakturen, die ohne Reposition und ausreichende Stabilisierung unweigerlich zur in der Regel schmerzhaften Versteifung des Schultergelenkes führen, auch bei alten Menschen operativ behandelt werden, sofern nicht Begleitkrankheiten ein unvertretbares Narkose- bzw. Operationsrisiko bedingen oder der Patient die Operation ablehnt. In diesem Sinne gelten heute folgende Formen der Oberarmkopffrakturen als operationspflichtig: Die Mehrfragmentluxationsfraktur des Oberarmkopfes, die instabile Oberarmkopfmehrfragmentfraktur mit Kalottenbeteiligung.
Kasuistik
Eine 67-jährige Frau zog sich durch Sturz einen Verrenkungsbruch des linken Oberarmkopfes zu. Entsprechend der bildgebenden Diagnostik (Röntgen, CT), die in dem Krankenhaus durchgeführt wurde, in dem die primäre Behandlung der Fraktur erfolgte, handelte es sich um eine 4-Fragmentoberarmkopftrümmerfraktur mit Luxation des Hauptfragmentes nach lateral. Die Patientin wurde primär in einem Krankenhaus der Regelversorgung stationär behandelt. Die Fraktur wurde geschlossen reponiert, was primär zu einer Stellungsverbesserung im Sinne einer gewissen Adaptation der ursprünglich stark dislozierten Fragmente und zur Einstellung des Hauptfragmentes in die Schultergelenkspfanne führte. Diese Stellungsverbesserung wurde aber ausweislich der weiteren Röntgenkontrollen nicht gehalten. Die Fraktur „rutschte zusammen“ (Verkürzung). Das Hauptfragment luxierte wieder. Mit dieser Frakturstellung wurde die Patientin nach 5-wöchiger stationärer Behandlung in hausärztliche Weiterbehandlung entlassen mit der Maßgabe krankengymnastischer Übungsbehandlungen. Wegen des unbefriedigenden Behandlungsergebnisses veranlaßte der Hausarzt kurzfristig die Vorstellung in einer unfallchirurgischen Klinik. Dort erfolgte einen Monate später bzw. zwei Monate nach dem Unfall die Fragmententfernung sowie die Implantation einer Oberarmkopfprothese in Verbindung mit einer Pfannendachplastik. Eine stationäre Reha-Maßnahme schloß sich an. Es verblieb ein Funktionsdefizit des linken Schultergelenkes.
Die Patientin wirft den Ärzten der erstbehandelnden Klinik vor, die Fraktur nicht sachgemäß behandelt zu haben. Hierdurch sei ein Zweiteingriff notwendig geworden. Bei primär korrekter Behandlung hätte ein besseres funktionelles Ausheilungsergebnis erzielt werden können.
In dem von der Schlichtungsstelle in Auftrag gegebenen unfallchirurgischen Gutachten wird zunächst anhand der vorliegenden Röntgen- und CT-Aufnahmen die exakte Frakturdiagnose gestellt. Aufgrund der Röntgenserie sei davon auszugehen, daß spätestens nach der dritten Behandlungswoche das unzureichende Repositionsergebnis mit der erneuten Luxationsstellung des Hauptfragmentes hätte festgestellt werden müssen. Bei diesem Befund war voraussehbar, daß eine Versteifung des Schultergelenkes in funktionell ungünstiger Stellung eintreten würde. Diese Situation erforderte eine operative Frakturbehandlung, um wenigstens eine Restfunktion des Schultergelenkes zu erhalten. Die Unterlassung der operativen Frakturbehandlung wird als Fehler beurteilt. Der Patientin hätte bereits zu Anfang die operative Behandlung nahegelegt werden müssen, da bei dem vorliegenden Frakturmuster eine wirksame konservative Therapie nicht möglich war. Standen im erstbehandelnden Krankenhaus entsprechende Behandlungsverfahren nicht zur Verfügung, so hätte die Patientin in einem entsprechend kompetenten Krankenhaus vorgestellt werden müssen. Als schadenersatzpflichtige Folgen des Behandlungsfehlers der unterlassenen primär operativen Frakturversorgung werden die bis zur operativen Behandlung 2 Monate nach dem Unfall erlittenen Schmerzen und Behinderungen bezeichnet. Ein fehlerbedingter Dauerschaden wird vom Gutachter verneint. Hierzu wird festgestellt: Eine völlige Wiederherstellung der Schultergelenkfunktion mit Schmerzfreiheit ist bei derartigen Frakturen nicht möglich. Bei standardgemäßem Vorgehen wären wohl frühzeitiger eine Reduzierung der Beschwerden und eine Funktionsverbesserung erzielt worden. Die nach der Operation verbliebenen Funktionseinschränkungen können jedoch nicht mit ausreichender Sicherheit auf die Versäumnisse vor der Operation der Fraktur bezogen werden. Auch bei gut sitzenden Schulterendoprothesen verbleiben in der Regel Funktionseinschränkungen.
Die Schlichtungsstelle folgte in allen Punkten den Wertungen des Gutachters und empfahl eine außergerichtliche Regulierung.