Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Fehldeutung einer Beinvenenthrombose als Muskelfaserriß

Misdiagnosis of Deep Vein Thrombosis as Torn Muscle Injury

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 04/2007

Kasuistik

Ein zum Behandlungszeitpunkt 62-jähriger Mann wurde an einer entzündlich komplizierten Sigmadivertikulose mit Ausbildung einer Colon-Blasen-Fistel operiert: Sigma-Kontinuitätsresektion mit Verschluß des Blasendefektes. Perioperativ erfolgte eine angemessene medikamentöse Thromboseprophylaxe. Der postoperative Verlauf war seitens der Wundheilung und der Wiederkehr der normalen Darmfunktion völlig unauffällig. Am 15. postoperativen Tag konnte der Patient in ambulante Weiterbehandlung entlassen werden. Anamnestisch war bekannt, daß der Patient 5 Jahre und 3 Jahre zuvor wegen einer Unterschenkelvenenthrombose in einer chirurgischen Praxis behandelt worden war.

Zwei Tage nach der Entlassung aus dem Krankenhaus stellte sich der Patient mit Schmerzen in der rechten Wade in der chirurgischen Praxis vor, in der zuvor bereits die Unterschenkelvenenthrombosen behandelt worden waren. Er habe den untersuchenden Arzt ausdrücklich auf die vor 3 und 5 Jahren abgelaufenen Unterschenkelvenenthrombosen hingewiesen. Der Chirurg stellte nach klinischer Untersuchung, allerdings ohne die einzelnen durchgeführten Untersuchungsmaßnahmen zu dokumentieren, die Diagnose eines „kleinen Muskelfaserrisses“. Weiterführende diagnostische Maßnahmen wurden nicht durchgeführt. Es wurde ein Kompressionsverband am rechten Unterschenkel angelegt.

2 Tage später wurde der Patient dringlich mit beiderseitigen Lungenembolien in einer Inneren Klinik stationär aufgenommen. Linksseitig entwickelte sich eine Infarkt-Pleuropneumonie. Phlebographisch und sonographisch wurde eine Oberschenkelvenenthrombose rechts bestätigt. Unter Heparintherapie und nachfolgend Marcumar-Dauertherapie wurde das thromboembolische Krankheitsbild beherrscht. Wegen der vorübergehend erheblich gestörten Atemfunktion erfolgte eine Anschlußheilbehandlung. Ein postthrombotisches Syndrom oder ein klinisch bedeutsamer pulmonaler Dauerschaden sind nicht entstanden.

Der Patient war der Ansicht, daß die Diagnose der Unterschenkelvenenthrombose durch den Chirurgen 2 Tage vor Eintritt der Lungenembolien hätte gestellt werden müssen. Bei rechtzeitiger Diagnose und Therapie wären die Lungenembolien mit der vorübergehend erheblich beeinträchtigten Atemfunktion vermeidbar gewesen.

Der in Anspruch genommene Chirurg äußerte sich zu den Vorwürfen des Patienten, daß am besagten Untersuchungstag noch keine klinischen Symptome einer Thrombose vorgelegen hätten.

Der von der Schlichtungsstelle beauftragte chirurgische Gutachter stellt hierzu fest: Die Beinvenenthrombose wurde fehlerhaft übersehen. Sowohl die Angaben von Schmerzen im Wadenbereich als auch die Thromboseanamnese seien ausreichende Hinweise auf ein Thromboserezidiv gewesen. Diese Diagnose hätte unverzüglich durch weiterführende Untersuchungen wie Beinumfangsmessung, Nachweis klinischer Thrombosesymptome, Dopplersonographie und ggf. Phlebographie gesichert werden müssen mit der Konsequenz der sofortigen antikoagulativen Behandlung. Für die Annahme eines (spontanen) Muskelfaserrisses bestand keinerlei Anlaß. Bei rechtzeitigem Einsatz der Therapie wären die embolischen Komplikationen mit großer Wahrscheinlichkeit verhindert worden.

Als Folge des Diagnose- bzw. Behandlungsfehlers wurden vom Gutachter festgestellt: Schmerzen und Beeinträchtigungen durch die Thrombose, die Lungenembolien und die Infarktpleuropneumonie, zwei stationäre Behandlungen zur Akutbehandlung der Thromboembolie und zur Anschlußheilbehandlung, verlängerte Krankheits- und Arbeitsunfähigkeitsdauer.

Die Schlichtungsstelle schloß sich den Wertungen des Gutachters an. Die Lungenembolie und die weiteren pulmonalen Komplikationen waren wahrscheinlich Folge der nicht rechtzeitig behandelten Thrombose. Schadenersatzansprüche waren begründet. Es wurde eine außergerichtliche Regulierung empfohlen.

Autoren:

HV

Prof. Dr. med. Heinrich Vinz

Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover