Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 09/2007
Einleitung
Die Parkinsonsche Krankheit geht mit den sog. Kardinalsymptomen einer verminderten Spontanmotorik (Akinese), einem erhöhten Muskeltonus (Rigor) und unwillkürlichen rhythmischen Bewegungen (Tremor) einher und gilt als eine Erkrankung vorwiegend der zweiten Lebenshälfte. Nicht selten überwiegt zu Beginn dieser Erkrankung eines dieser Symptome, so daß, besonders beim Tremor, Verwechslungen mit anderen Erkrankungen, die ebenfalls mit einem Tremor einhergehen, möglich sind. Als exemplarisch für ein solches Geschehen kann das folgende Beispiel gelten:
Kasuistik
Vom Hausarzt wird die 82jährige Patientin wegen eines seit vielen Jahren bestehenden Tremors des Kopfes sowie Zuckungen des rechten Augenlids im September 2002 zum Neurologen überwiesen. Dort ergibt die Anamnese, daß neben dem Kopf auch die Füße teilweise wackelten. Bei der Untersuchung zeigt sich ein Ruhetremor des Kopfes sowie ein angedeutetes Zahnradphänomen beider Hände. Zur Diagnosesicherung und Dokumentation wird die Patientin aufgefordert, eine Spirale auf ein Blatt Papier zu zeichnen, deren Linienführung unruhig (zittrig) ist. Die Diagnose lautet: „M. Parkinson, G 20“ (= ICD 10: primäres Parkinson-Syndrom), verordnet wird Amantadin, zunächst 50 mg. In der Folge wird bei Angabe einer Besserung (!) des Kopftremors die Amantadin-Dosis im Verlauf von Oktober 2002 (100 mg/die), März 2003 (150 mg/die) im Dezember auf 200 mg und im August 2004 auf 300 mg erhöht, wobei der letzten Erhöhung eine Kreislaufkrise vorausging. Am 6.9.2004 ist vermerkt: „on – off“ und eine Dosissteigerung auf 4×100 mg Amantadin und zusätzlich Dopadura 200/50, 3x¼ Tabl. verordnet. Wenige Tage später kommt es zu einer zunehmenden Gangstörung, ausgeprägtem Tremor und Sprachstörungen, die zur Einweisung in eine neurologische Klinik führen. Im Aufnahmebefund der Klinik werden ein Tremor des Unterkiefers, ein feinschlägiger Haltetremor der Arme sowie ein gröberer Tremor der Beine, jedoch kein erhöhter Muskeltonus oder Rigor und keine parkinsontypischen Bewegungsstörungen beobachtet und die Antiparkinsonmedikation abgesetzt. Darunter normalisiert sich der körperliche Zustand bis auf einen leichten Kopftremor innerhalb einer Woche.
Von der Tochter wird im Auftrag der Mutter der Vorwurf erhoben, daß über zwei Jahre Medikamente unter der fehlerhaften Annahme einer Parkinsonschen Erkrankung verschrieben worden seien, die sie nicht benötigt habe. Diese Medikamenteneinnahme wäre einer Vergiftung gleichgekommen.
Der neurologische Gutachter untersucht die jetzt 85jährige Patientin 1½ Jahre später, also 3½ Jahre nach Beginn der Behandlung. Er findet neben einem leichten Kopftremor ohne Nackenrigor und leichten Kontraktionen der periorbitalen Muskulatur wie bei einem Spasmus facialis ansonsten einen unauffälligen neurologischen Status mit flüssigem Gangbild und normalen Schritten. Bei fehlenden Zeichen eines Rigors oder einer Akinese, nomalem Bewegungsmuster ohne Hinweis auf jeglichen Ruhe- Halte- oder Intentionstremor und fehlendem Zahnradphänomen gibt es keinen Anhalt für eine Parkinson’sche Symptomatik.
In seiner Beurteilung führt der Gutachter, gestützt auf Literaturangaben, aus, daß das führende Symptom eines Parkinsonsyndroms die Akinese wäre und die Diagnose dann zu stellen sei, wenn zusätzlich eines der Symptome Rigor und/oder Ruhetremor vorliege. Dabei sei der Tremor allein kein obligates Symptom des Parkinsonsyndroms und erlaube auch bei alleinigem Vorliegen diese Diagnose nicht. Bei der Patientin hätten die Kardinalsymyptome eines Parkinsonsyndroms Akinese und Rigor auch zur Zeit der Untersuchung durch den Neurologen nicht vorgelegen, dieser beschreibe einen Tremor des Kopfes, einen Ruhetremor und ein angedeutetes Zahnradphänomen.
Bei alleinigem Tremor wäre immer eine weitere differentialdiagnostische Abklärung erforderlich, wobei in erster Linie ein sog. essentieller Tremor in Frage komme. Andere Differentialdiagnosen seien der senile Tremor, ein symptomatischer Tremor bei Alkoholismus, Hyperthyreose etc. All diesen Tremorarten wäre gemein, daß keine Akinese, Tonuserhöhung (Rigor) und posturale Instabilität vorlägen.
Der Tremor des Parkinsonsyndroms unterscheide sich von anderen Tremorarten dadurch, daß er in Ruhe auftrete und sich durch aktive Bewegung vermindere, während der essentielle Tremor in Ruhe sistiere, beim Vorhalten der Hände aber deutlich in Erscheinung trete und sich üblicherweise bei Bewegungen vermindere. Ein Haltetremor könne auch leicht beim sitzenden Menschen als Ruhetremor verkannt werden, da auch bei dieser Position eine gewisse tonische Innervation der Muskulatur vorliege. Eine Unterscheidung sei durch die Änderung der Armposition möglich. Hilfreich sei auch die Anamnese: der essentielle oder senile Tremor störe, im Gegensatz zum Parkinsontremor, niemals beim Einschlafen und bei aktiven Bewegungen wie beim Finger-Nasen-Versuch. Auch das vom untersuchenden Facharzt beschriebene „angedeutete Zahnradphänomen“ könne leicht durch einen Haltetremor vorgetäuscht werden und beweise ein Parkinsonsyndrom nicht.
Das gleiche gelte für die seit Behandlungsbeginn beim Neurologen dokumentierten Spiralzeichnungen. Die Patientin zeichne zwar kleine, doch keineswegs parkinson-typische Spiralen, die auch nicht die typischen Zeichen einer Mikrographie aufwiesen, da sie nicht enger würden. Entsprechendes zeige sich bei der Schriftprobe, die nicht, wie bei einer Mikrographie typisch, kleiner werde, sondern in ihrer Größe konstant bleibe. Die etwas zackige Linienführung bei der Spiralenzeichnung belege einen leichten Tremor, sei aber keineswegs pathognomonisch für ein Parkinsonsyndrom.
Insgesamt sei gutachterlich festzustellen, daß die Patientin nicht an einem Parkinsonsyndrom leide. Es handele sich angesichts der fehlenden familiären Belastung und anderer erkennbarer Ursachen am ehesten um einen senilen Tremor (Alterstremor). Nach Aussage des Gutachters dürfe eine Fehldiagnose wie im vorliegenden Fall einem Arzt für Neurologie nicht unterlaufen.
Des weiteren sei zu prüfen, ob die unter der Annahme einer falschen Diagnose verordnete Medikation zu Schädigungen geführt habe. Amantadin sei für die Behandlung der Parkinsonerkrankung zugelassen, nicht aber zur Behandlung des essentiellen oder senilen Tremors. Auch habe Amantadin eine sehr lange Halbwertszeit mit der Gefahr durch Kumulation entstehender toxischer Nebenwirkungen, u.a. Herzrhythmusstörungen.
Es unterliege keinem Zweifel, daß sich bei der Patientin nach Beginn der dopaminergen Medikation ab dem 6.9.2004 rasch Zeichen einer Intoxikation eingestellt hätten, die eine Woche vor der Krankenhauseinweisung erheblich beeinträchtigend und beunruhigend gewesen seien. Auch nach der Entlassung aus stationärer Behandlung hätten noch psychische Veränderungen bestanden, die – als möglicher Ausdruck einer dissoziativen Bewegungsstörung fehlinterpretiert – sich inzwischen aber wieder vollständig zurückgebildet hätten.
Die Schlichtungsstelle folgt der überzeugenden Argumentation des Gutachters und sieht wie dieser die nach Dosiserhöhung und zusätzlicher Gabe von Dopamin aufgetretene Intoxikation, beginnend eine Woche vor Krankenhauseinweisung und endend eine Woche nach Entlassung, also mit einer Dauer von 3 Wochen, als zu entschädigende Folge dieses Fehlers an.Die außergerichtliche Regulierung des Schadens wurde empfohlen.