Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 09/2008
Kasuistik
Die 34-jährige Antragstellerin hatte erstmals zwei Jahre vor der jetzigen Behandlungsepisode im Rahmen depressiver Verstimmung mit psychotischen Anteilen einen schwerwiegenden Suizidversuch durch Fenstersprung unternommen, bei dem sie sich ein Polytrauma zugezogen hatte. Danach wurde ihr ein Grad der Behinderung von 80 Prozent zugesprochen.
Alsbald geriet die Antragstellerin erneut in eine psychische Krise. Daraufhin plante der Hausarzt nach eigener Untersuchung zunächst eine Vorstellung bei der mitbehandelnden Nervenärztin. Nachdem diese nicht erreichbar war, erfolgte die Überweisung in die Poliklinik der Abteilung für Psychosomatik und Psychotherapie eines Universitätsklinikums. Auf dem Überweisungsschein war vermerkt: „Suizidgefährdung“, dabei wurde auf den Suizidversuch zwei Jahre zuvor hingewiesen.
Nur nach nachdrücklicher Vermittlung über Angehörige sei es zur Anberaumung eines Termins noch am gleichen Tag gekommen.
Die Antragstellerin wurde in der Poliklinik von einer Diplompsychologin untersucht, die gut drei Monate zuvor als Berufsanfängerin in der Klinik angestellt worden war. Die Diplompsychologin führte ein zirka fünfzigminütiges Gespräch mit der Patientin. Diese habe vor allem über Konflikte am Arbeitsplatz, Interessenverlust, gesteigerte Ermüdbarkeit und Unruhegefühle seit einigen Wochen berichtet. Auf das Gespräch habe sie nach Einschätzung der Untersucherin erleichtert reagiert. Eine neuerliche Suizidalität habe die Patientin auf Nachfragen nicht angegeben. Der Arztbrief enthielt die Diagnose einer Dysthymia (F 34.1 nach ICD 10). Nach dem Angebot eines Aufnahmetermins innerhalb der nächsten Woche wurde die Patientin nach Hause entlassen. Am darauffolgenden Tag um 5.30 Uhr sprang sie aus dem neunten Stock eines Hauses und zog sich erneut ein schweres Polytrauma zu, bei dem es neben knöchernen Verletzungen noch zu einer traumatischen Subarachnoidalblutung kam, die eine längerfristige Beatmung erforderlich machte. Der Grad der Behinderung wurde nach diesem Trauma auf nunmehr 90 Prozent festgelegt.
Die Antragstellerin sah im Unterlassen der sofortigen stationären Aufnahme einen Behandlungsfehler. Durch unverzüglichen Therapiebeginn in der Klinik hätte der Suizidversuch verhindert werden können.
Als Schaden nennt die Antragstellerin das erneute Polytrauma mit Schmerzen und Beeinträchtigungen von Körperfunktionen sowie neuropsychologische Defizite.
Zuständigkeitsfragen
In ihrer Stellungnahme machte die Ärztliche Leitung der aufnehmenden Abteilung geltend, dass es sich um die Ambulanz einer Abteilung für Psychosomatik und Psychotherapie, nicht aber um eine fachpsychiatrische Ambulanz gehandelt habe. Suizidale Patientinnen und Patienten würden normalerweise in der fachpsychiatrischen, nicht jedoch in der Ambulanz der Abteilung für Psychosomatik und Psychotherapie vorgestellt.
Es sei im Falle eines Hinweises auf Suizidalität im Zusammenhang mit der Überweisungs- beziehungsweise Einweisungsdiagnose in dieser Klinik allerdings so geregelt, dass die betroffenen Patienten sofort auch einer fachpsychiatrischen Untersuchung zuzuführen seien. Aus der Behandlungsdokumentation ließe sich zwar das ausführliche Gespräch mit der Psychologin rekonstruieren, allerdings keine derartige fachärztliche Vorstellung.
Nach Auswertung der Behandlungsunterlagen gelangte der von der Schlichtungsstelle beauftragte Gutachter des Fachgebiets Psychosomatik und Psychotherapie zu der Einschätzung, dass bereits die Formulierung der Diagnose Dysthymia fehlerhaft gewesen sei. Verbunden damit sei es auch zu einer Fehleinschätzung der Suizidalität gekommen. Es gebe Anhaltspunkte dafür, dass sich die Patientin in einem Ausnahmezustand befunden hätte. Dieser habe sie mit der mindestens seit zwei Wochen bestehenden Getriebenheit und Alarmierung der ganzen Umwelt an das Ereignis zwei Jahre zuvor denken lassen, in dessen Kontext es bereits einmal zu einem schwerwiegenden Suizidversuch gekommen sei. Die korrekte Diagnose hätte rezidivierende depressive Störung mit psychotischen Symptomen (F 33.3) lauten müssen. Bei sorgfältiger Anamnese, mit Bezug auf die Umstände, die zwei Jahre zuvor zum Suizidversuch geführt hatten und Erhebung einer Medikamentenanamnese sowie unter Berücksichtigung der richtigen Diagnose wäre die Notwendigkeit der stationären Einweisung, zunächst auf eine geschlossene Abteilung, deutlich geworden. In einem solchen Fall, der befürchten ließ, dass das Handeln der Patientin durch psychotische Erlebnisse beeinträchtigt würde, könne nicht auf eine Mitverursachung seitens der Patientin am Fenstersturz im Sinne eines willentlichen Aktes erkannt werden. Durch Einweisung in eine geschlossene Station hätte ein Suizidversuch – jedenfalls zu diesem Zeitpunkt – mit größter Wahrscheinlichkeit verhindert werden können.
Was die Schlichtungsstelle meint
Die Schlichtungsstelle hielt das Gutachten für überzeugend und kam abschließend zu folgender Bewertung des Sachverhalts:Obwohl in der ärztlichen Überweisung auf die Suizidalität explizit hingewiesen wurde, hat man in der Klinik auf der Basis einer lückenhaften Untersuchung die Schwere des Krankheitsbildes im Ausmaß einer rezidivierenden depressiven Störung mit psychotischen Anteilen unterschätzt und es fälschlich als Dysthymia eingeordnet. Die richtige Diagnose, insbesondere in Kenntnis des ernsthaften Suizidversuchs in der jüngeren Vorgeschichte, hätte eine stationäre Aufnahme zwingend erforderlich gemacht. Das Unterbleiben der sofortigen stationären Aufnahme wird als Behandlungsfehler angesehen. Der untersuchenden Diplompsychologin, die selbst noch als Berufsanfängerin zu gelten hatte, ist der Diagnosefehler aufgrund mangelnder Erfahrung nicht anzulasten. Fehlerhaft ist allerdings die unterbliebene fachärztliche Supervision. Dabei ist es aus Sicht der Schlichtungsstelle nicht entscheidend, ob dafür ein Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie oder ein Facharzt für Psychosomatik und Psychotherapie herangezogen worden wäre. Beiden ist eine entsprechende Kompetenz zur Suizidalitätsabschätzung zu unterstellen. Da nach Auskunft der Ärztlichen Klinikleitung in ihrem Hause Patienten mit dem Hinweis auf Suizidalität regelhaft fachärztlich gesehen werden, ist ein Organisationsverschulden nicht nachweisbar.Warum in diesem konkreten Fall die fachärztliche Vorstellung unterblieb, war im Rahmen des Schlichtungsverfahrens nicht zu klären, konnte aber für das haftungsrechtliche Ergebnis dahinstehen. Die Schlichtungsstelle hielt von daher Schadensersatzansprüche für begründet und empfahl eine außergerichtliche Regulierung von Schadenersatzansprüchen. Der aus dem Behandlungsfehler resultierende Schaden kann im Umfang der Erhöhung des Grades der Behinderung von 80 auf 90 Prozent beziffert werden. Hinzu kommen in der Schadensbemessung neben den körperlichen Folgen des Polytraumas die vorgetragenen neuropsychologischen Defizite, die im Wesentlichen auf das mit dem Suizidversuch verbundene Schädel-Hirn-Trauma zurückgeführt werden können. Sie waren bereits im Vorfeld insgesamt rückläufig, was durch die im Rahmen einer Rehabilitationsbehandlung durchgeführten Testverfahren gut zu belegen war. Es lässt sich derzeit jedoch nicht beurteilen, welches Funktionsniveau letztlich wieder erreichbar ist. Deshalb wurde eine neuerliche Feststellung der neuropsychologischen Defizite nach Ablauf von zwei Jahren empfohlen. Dann sollte auch geklärt werden, welche Defizite allein aus dem Schädel-Hirn-Trauma resultieren und welche als Ausdruck der rezidivierenden depressiven Störung zu verstehen sind.