Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Fehlerhaft verzögerte Diagnose einer akuten myeloischen Leukämie

Delayed Misdiagnosis of Patient with Acute Myeloid Leukemia

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 8/2010

Einleitung
Die Initialsymptome der akuten Leukämie des Erwachsenen sind unspezifisch und können in der Anfangsphase der Erkrankung einen wechselnden Verlauf mit passagerer Besserungstendenz zeigen. Leistungsabfall, Appetitlosigkeit, ungewollte Gewichtsabnahme, Knochenschmerzen und Fieber („Erkältungen“) führen die Patienten häufig primär in ärztliche Behandlung. Diese Symptome sind nicht beweisend für eine akute Leukämie. Falls bei der weiterführenden Diagnostik jedoch auffällige Blutbildbefunde erhoben werden, ist die konsequente und zeitnahe Abklärung unverzichtbar.

Kasuistik

Bei einer 35-jährigen Patientin waren ernsthafte internistische Vorerkrankungen bisher nicht aufgetreten. Sie stellte sich am 3. April 2006 mit Symptomen, die als grippaler Infekt interpretiert wurden, bei ihrer Hausärztin (Ärztin für Allgemeinmedizin) vor. Die Labordiagnostik ergab: Hb 8.4 g/dl, Leukozyten 15 700/mm³ und Thrombozyten 166 000/mm³. Mit diesen Blutbildwerten erfolgte die Überweisung an einen Facharzt für Innere Medizin zur weiteren Abklärung. Im Zeitraum 4. bis 13. April 2006 wurden dort Sonographien von Schilddrüse, Mammae und Abdomen, Stuhluntersuchungen auf okkultes Blut, eine Gastroskopie, ein EKG sowie spezielle Laboranalysen durchgeführt (Eisenstoffwechsel, Vitamin-Bestimmungen, Hämoglobin-Elektrophorese, Retikulozytenzahl). Die erhobenen Befunde führten zu keiner konkreten Diagnose. Die initiale Symptomatik hatte sich zwischenzeitlich zunächst gebessert. Die Patientin litt im weiteren Verlauf jedoch unter zunehmender Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit und Belastungsdyspnoe. Die Karteikarte des Arztes dokumentiert einen nächsten Patientenkontakt am 16. Mai 2006 mit dem Hinweis „Beratung über Dringlichkeit der Diagnostik“. Zu einer weiteren Vorstellung in der Praxis kam es am 29. Mai 2006. Vermerkt an diesem Tag sind „Wadenkrämpfe, Rauschen im Kopf“. Einzelne Parameter der vorangegangenen Labordiagnostik wurden wiederholt (Retikulozytenzahl, Transferrin, Hämogloblin-Elektrophorese). Mit Schreiben vom 13. Juni 2006 hat der Internist der primär überweisenden Hausärztin schriftlich mitgeteilt, dass er zur weiteren Klärung der Erkrankung eine Beckenkammbiopsie/Knochenmarkdiagnostik für unerlässlich hält. Am 23. Juni 2006 stellte sich die Patientin wieder bei der Hausärztin vor und wurde von dort ohne weitere Untersuchungen bei schlechtem Allgemeinzustand noch am gleichen Tag in stationäre Behandlung eingewiesen.

Bei Klinikaufnahme ergab die Labordiagnostik: Hb 3,1g/dl, Leukozyten 34 400/mm³ mit hohem Anteil myeloischer Blasten im Differentialblutbild,Thrombozyten 67 000/mm³. Die Knochenmarkuntersuchungen führten zur Diagnose einer akuten myeloischen Leukämie (M2). Während des stationären Aufenthaltes bis zum 25. Juli 2006 erreichte die Patientin mit dem ersten Zyklus einer Induktionschemotherapie die komplette Remission. Weitere Chemotherapien zur Konsolidierung wurden durchgeführt. Im November 2006 lag anhaltend eine Remission vor.

Die Patientin beanstandete, dass der Arzt für Innere Medizin in der Zeit ab 4. April 2006 keine konkrete Diagnose gestellt und keine spezielle Behandlung eingeleitet beziehungsweise veranlasst habe.

Der Internist hat hierzu ausgeführt, dass er bereits am 13. April 2006 den Verdacht auf das Vorliegen einer Erkrankung aus dem hämatologischen Formenkreis gehabt habe. Er hätte bereits zu diesem Zeitpunkt auf die Notwendigkeit der baldigen Durchführung einer Knochenmarkdiagnostik hingewiesen. Die Patientin sei jedoch nicht „ausreichend bereit gewesen“, diese Maßnahme durchführen zu lassen.

Gutachten

Die Diagnostik zur Abklärung der Anämie sei im vorliegenden Fall unzureichend und zeitlich so ausgedehnt gewesen, dass es dadurch zu einer unnötigen Leidenszeit der Patientin bis zur Einleitung der Therapie beziehungsweise der stationären Behandlung gekommen sei. Ein vermeidbarer Fehler sei gewesen, dass der Internist im Rahmen der Abklärung der Anämie unter anderem darauf verzichtet habe, ein Differenzialblutbild anzufordern, zumal er bereits frühzeitig nach eigenen Angaben das Vorliegen einer Erkrankung aus dem hämatologischen Formenkreis in seine differentialdiagnostischen Überlegungen einbezogen hätte.

Der Arzt für Innere Medizin hat die gutachterliche Feststellung akzeptiert, wonach im Verlauf frühzeitig das Vorliegen einer hämatologischen Systemerkrankung in Betracht zu ziehen war. Problematisch seien jedoch die Uneinsichtigkeit, die mangelnde Compliance und das absolute Desinteresse der Patientin an der weiteren Abklärung gewesen. Die Patientin hat dieser Darstellung des Arztes widersprochen.

Die Entscheidung der Schlichtungsstelle

Die von dem Internisten ab 4. April 2006 zunächst durchgeführten Untersuchungen zur Abklärung der Anämie (unter anderem Gastroskopie) waren indiziert beziehungsweise sind nachvollziehbar. Nachdem hierbei bis zum 13. April 2006 keine erklärenden Befunde erhoben wurden, bestand der begründete Verdacht auf das Vorliegen einer hämatologischen Systemerkrankung (zum Beispiel akute Leukämie). In dieser Situation war es anlässlich der Blutuntersuchungen am 13. April und 29. Mai 2006 ein vermeidbarer Fehler, die in diesem Zusammenhang wichtigen Analysen, nämlich die von Anfang an pathologischen Befunde (Hb, Leukozytenzahl), in ihrem weiteren Verlauf nicht zu überprüfen und kein Differenzialblutbild zu veranlassen. Der Verzicht auf diese Maßnahmen ist nicht mit Uneinsichtigkeit der Patientin zu erklären, die sich ja zu den genannten Zeitpunkten in der Arztpraxis vorgestellt hatte. Da keine aleukämische Verlaufsform vorlag, hätte durch gezielte Blutbilddiagnostik bereits am 13. April., 16. Mai oder 29. Mai 2006 die später festgestellte akute myeloische Leukämie durch den Internisten diagnostiziert werden können. Die Schlichtungsstelle hielt es für unwahrscheinlich, dass die Patientin nach Konfrontation mit gravierenden Laborbefunden beziehungsweise Mitteilung einer konkreten Verdachtsdiagnose die Durchführung notwendiger Maßnahmen (zum Beispiel Klinikeinweisung, Knochenmarkpunktion) verweigert hätte.

In Übereinstimmung mit dem Gutachter wurde festgestellt, dass Fehler des Arztes die Leidenszeit der Patientin bis zum Beginn einer wirksamen Behandlung verlängert haben. Nicht zu beweisen war, dass die Langzeitprognose der akuten Leukämie durch den Fehler negativ beeinflusst wurde.

Die Schlichtungsstelle hielt Schadenersatzansprüche im dargestellten Rahmen für begründet und empfahl, die Frage einer außergerichtlichen Regulierung zu prüfen.

Autoren:

HR

Prof. Dr. med. Herbert Rasche

Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover