Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Fehlerhaft verzögerte Diagnostik eines Dickdarmkarzinoms

Inappropriate and Delayed Diagnostics of Colorectal Carcinoma

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 06/2009

Kasuistik

Im Oktober 2000 wurde eine 1992 hysterektomierte 47-jährige Patientin wegen krampfartiger Schmerzen im Unterbauch von ihrem niedergelassenen Frauenarzt in die gynäkologische Abteilung des regionalen Krankenhauses eingewiesen. Bei der Aufnahme gab die Patientin Blut im Stuhl an, teils hellrot, teils schwarz koaguliert. Das Ereignis lag bereits sechs Wochen zurück.

Die digitale rektale Untersuchung wurde als unauffällig beschrieben. Ein sichtbarer Hämorrhoidal- oder Rektumprolaps war nicht festzustellen. Endosonographisch ergab sich kein pathologischer Befund. Bei einem Defäkogramm stellte sich eine Raumforderung im kleinen Becken computertomographisch als 7,5 x 3 x 8 Zentimeter große Ovarialzyste links dar, die operativ entfernt wurde. Die anamnestisch erwähnten rektalen Blutungen wurden weder diagnostisch weiterverfolgt, noch im Abschlussbericht erwähnt.

Im Zusammenhang mit der hausärztlichen Behandlung finden sich von März 1994 bis Juli 2001 etwa 60 datumsbezogene Eintragungen. Dabei wurden bei 13 Praxiskontakten Darm- oder Darmausgangsprobleme beziehungsweise unklare Bauchschmerzen und im März 2000 gastroenterale Blutungen dokumentiert. Mehrfache rektale Untersuchungen hätten keinen pathologischen Befund ergeben. Wiederholt wurden äußere Hämorrhoiden beschrieben, jeweils gefolgt von der Verordnung von Hämorrhoidenzäpfchen.

Als sich die Patientin im März 2002 bei einem Chirurgen wegen schwarzer Streifen am Stuhl und Abgang hellroten Blutes vorstellte, sah dieser bei einer Rektoskopie von oben herabfließendes Blut. Die daraufhin von ihm veranlasste Röntgendoppelkontrastuntersuchung ergab eine etwa vier Zentimeter lange zirkuläre Stenose im rektosigmoidalen Übergang. Nach umgehender stationärer Einweisung zeigte sich koloskopisch ein Tumor am rektosigmoidalen Übergang, der histologisch einem Karzinom entsprach. Nachdem sich sonographisch und radiologisch keine Hinweise auf eine Metastasierung ergaben, wurde eine anteriore Rektosigmoidresektion mit Deszendorektostomie durchgeführt. Die histologische Aufarbeitung des Resektats wies ein mittelgradig differenziertes, ulzerös infiltrierendes Adenokarzinom des Rektosigmoids mit einer maximalen Tumorausdehnung von 40 Millimetern, einer Infiltrationstiefe von elf Millimetern, tumorfreie Resektionsränder und eine Lymphangiosis carcinomatosa nach. Von insgesamt zwölf Lymphknoten waren elf tumorfrei. Die Tumorklassifikation lautete: pT3, pN1, pM0, G2, V0, R0, L1. Es schloss sich eine adjuvante Chemotherapie an, die jedoch nach zwei Zyklen wegen Unverträglichkeit abgebrochen werden musste.

Der Behandlungsfehler-Vorwurf

Die Patientin wirft sowohl Ihrem Hausarzt als auch den Gynäkologen der in Anspruch genommenen Klinik Versäumnisse bei der diagnostischen Klärung der geschilderten Symptome vor. Angesichts der Krankheitssymptome wäre eine Darmspiegelung dringend erforderlich gewesen. Bei Erhebung der notwendigen Untersuchungsbefunde hätte die Krebserkrankung bereits im November 2000, spätestens Mitte 2001 erkannt werden können und müssen. Die Heilungschancen wären bei frühzeitiger Erkennung des Karzinoms wesentlich besser gewesen. Die Verspätung der Diagnosestellung sei für die eingetretene Verschlechterung der Heilungschancen kausal.

Aus dem Gutachten der Schlichtungsstelle

Der von der Schlichtungsstelle beauftragte Gutachter führt dazu aus, dass bei der Patientin gesichert anale Blutabgänge vorgelegen hätten. Neben Hämorrhoiden als häufigster Blutungsursache sei jedoch auch an Neoplasien und entzündliche Darmerkrankungen zu denken. Die geringe Intensität der Blutung hätte es zugelassen, die weitere Diagnostik zum Nachweis der Blutungsquelle konsequent durchzuführen. Bei sichtbaren Blutabgängen habe es nicht eines Tests auf okkultes Blut bedurft.

Vom Hausarzt seien Hämorrhoiden als Ursache der Blutungsquelle angenommen worden, ohne dass die Diagnose durch weitergehende Untersuchungen gesichert worden wäre. Keinesfalls sei es gestattet, die Differentialdiagnose aufgrund der Farbe der Blutung oder durch Anwenden eines Tests auf okkultes Blut klären zu wollen. Auch der Versuch, blutende Hämorrhoiden kausal zu therapieren, sei unterblieben. Blut im Stuhl sei immer ein Alarmsignal. Als oberster Leitsatz der Proktologie gelte, jede Blutung aus dem Darm bis zum zweifelsfreien Ausschluss als karzinomverdächtig anzusehen. In einer Zeit, in der selbst bei subjektiv symptomfreien Zustand die Darmkrebs-Früherkennungsuntersuchungen propagiert würden, habe erst recht bei transanalen Blutungen eine endoskopische Untersuchung des Dickdarmes zu erfolgen. Nach den von der Patientin geschilderten peranalen Blutabgängen im März 2000 hätte hausärztlicherseits die Blutungsquelle gesichert werden müssen. Das Unterlassen adäquater Maßnahmen habe eine Verschleppung der Erkrankung von 24 Monaten verursacht.

In der gynäkologischen Klinik seien in der Anamnese transanale Blutungen im Oktober 2000 vermerkt. Hier wäre eine Koloskopie beziehungsweise die Einbeziehung gastroenterologischer Kompetenz zwingend geboten gewesen. Bei zeit- und sachgerechter Einleitung der Diagnostik durch die Gynäkologen hätte die oben genannte 24-monatige Verschleppung der Erkrankung um 17 Monate verkürzt werde können. Da Gynäkologen Vorsorgeuntersuchungen einschließlich des Testes auf okkultes Blut durchführen, könne die Symptomatik transanaler Blutungen für Frauenärzte nicht als fachfremd angesehen werden.

Sowohl dem Hausarzt als auch den Gynäkologen in der Klinik sei das Unterlassen einer endoskopischen Dickdarmdiagnostik als ärztlicher Fehler anzulasten. Bei standardgemässem Vorgehen hätte man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit 17 beziehungsweise 24 Monate vor der Operation das Karzinom beziehungsweise dessen Vorstufe im Sinne des adenomatösen Polypen entdecken können.

Der Hausarzt hält dem entgegen, dass eine ambulante Diagnostik gegenüber einer stationären gravierende Unterschiede beinhalte. Wenn eine Patientin mit jahrlang bekannten Hämorrhoiden in die Praxis komme und auf veränderte Umstände hinweise, könne nicht zwingend eine sofortige Endoskopie veranlasst werden. Im Vordergrund einer hausärztlichen Praxis stünden immer Anamnese, Inspektion, rektale Untersuchung und gegebenenfalls ein wiederholter Test auf okkultes Blut im Stuhl. Dies sei durch ihn erfolgt, bis auf den Stuhltest, zu dem die Patientin nicht erschienen sei. Der ambulant tätige Arzt wäre in hohem Maße Ratgeber, dem Patienten obliege es, diese Ratschläge zu befolgen, was die Patientin allerdings unterlassen habe. Wäre die Patientin nicht fern geblieben, wäre nach den bis dahin ausreichenden und wirtschaftlichen diagnostischen Maßnahmen auch eine Therapie erfolgt. Eine endoskopische Untersuchung würde er erst veranlassen, wenn sich der Verdacht auf eine höher gelegene Blutung verstärke oder bestätige. Seine eigene Statistik besage, dass er durchschnittlich 80 Patienten an einem Sprechtag habe und darunter fünf gastrointestinale Blutungen pro Woche. Eine Blutung so lange als karzinomverdächtig zu betrachten, bis dies zweifellos ausgeschlossen ist, sei aus Gründen fehlender Kapazität unmöglich und unwirtschaftlich.

Die Versäumnisse der behandelnden Ärzte

Die Schlichtungsstelle konnte dieser Argumentation des Hausarztes nicht folgen. Seine Hinweise auf Kosten und Wirtschaftlichkeit beziehungsweise Selbstverantwortung der Patientin lasse sich nicht als Erklärung für die Unterlassung indizierter Untersuchungen heranziehen. Seine beabsichtigten Stuhluntersuchungen auf okkultes Blut waren bei Vorliegen sichtbarer Blutabgänge ohnehin obsolet. Völlig unverständlich ist jedoch, dass er bei einer derart langen Darm- beziehungsweise Darmausgangsanamnese im März 2000 gastroenterale Blutungen notierte, ohne eine weitergehende endoskopische Diagnostik durchzuführen oder zu veranlassen, sondern lediglich Hämorrhoidalzäpfchen verordnete. Die Schlichtungsstelle sieht in der bewussten Unterlassung zwingend indizierter Diagnostik einen schweren Behandlungsfehler des Hausarztes.

Die Gynäkologen der Klinik hätten während der stationären Behandlung wegen seit Jahren bestehender rezidivierender krampfartiger Unterbauchschmerzen und der anamnestischen Angabe von länger andauernden peranalen Blutungen ebenfalls eine koloskopische Diagnostik veranlassen oder sicherstellen müssen. Dieses Versäumnis ist auch den Klinikärzten als schwerer Behandlungsfehler anzulasten.

Die von der Patientin angegebene zusätzliche, über das von der Krankheit ohnehin verursachte Ausmaß hinausgehende psychische Beeinträchtigung durch das Wissen um die fehlerbedingte Behandlungsverzögerung und Prognoseverschlechterung ist schmerzensgeldfähig.

Die Schichtungsstelle hielt daher Schadensersatzansprüche insoweit für begründet und hat eine außergerichtliche Regulierung vorgeschlagen.

Autoren:

HP

Dr. med. Herbert Pröpper

Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover