Kasuistik
Eine 41-jährige Patientin wünschte sich eine Korrektur des von ihr als zu spitz und vorstehend empfundenen Kinns. Sie stellte sich daraufhin in einem MVZ eines Universitätsklinikums bei einem Facharzt für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie (MKG) erstmals Mitte Dezember zu einer Untersuchung vor. Während eines zweiten Termins Anfang Januar des darauffolgenden Jahres wurden präoperative Fotografien und Röntgenaufnahmen erstellt. Anfang Februar erfolgte die Operation, mit deren Ergebnis die Patientin nicht zufrieden war.
Beanstandung der ärztlichen Maßnahmen
Die Patientin beanstandet, dass bei der Operation nicht – wie vereinbart – ein Keil aus dem Kinn herausgetrennt und nach hinten versetzt worden sei, sondern dass offenbar ein Teil des Knochens ganz entfernt worden sei. Dadurch sei das Kinn nicht kleiner, sondern noch auffälliger, spitzer und hervorstehender geworden. Nach der Operation sei die Haut über dem Kinn taub gewesen und habe sich verändert. Seit der Operation hänge außerdem die Haut unter dem Kinn. Der Mund lasse sich seit der Operation nicht mehr symmetrisch öffnen.
Stellungnahme Krankenhaus
Behandlungsfehler wurden in Abrede gestellt.
Gutachten
Der Gutachter, Facharzt für MKG-Chirurgie, hat nach Darstellung des Sachverhaltes folgende Kernaussagen getroffen:
Bei einer Kinnosteotomie (Kinnkorrektur) handle es sich bis auf sehr seltene Ausnahmen um einen Eingriff mit eingeschränkter medizinischer Indikation. Es gehe bei einem derartigen Eingriff vorrangig um ästhetische Verbesserungen, wobei eine psychologische Komponente eine fallbezogen unterschiedlich ausgeprägte Rolle spielen könne. Dies sei insbesondere bei der Aufklärung zu berücksichtigen.
Die vom Gutachter durchgeführte Auswertung der präoperativ angefertigten Fotografien habe ergeben, dass das Kinn ursprünglich zu weit vorne und zu weit oben gelegen habe und dass in der Konsequenz idealerweise eine rück- und kaudalwärtige Verlagerung der Kinnprominenz erforderlich gewesen wäre.
Die präoperativ erstellten diagnostischen Unterlagen (Fotografien, Röntgenaufnahmen) seien offensichtlich überhaupt nicht ausgewertet worden. Ein Fernröntgen-Seitenbild nebst Auswertung sei nicht vorhanden.
Die für den Eingriff erforderliche Nachsorge sei ferner defizitär gewesen. Nachkontrollen durch den Operateur hätten nicht stattgefunden. Unabhängig von der Wahl der Operationsmethode sei es bei einer Kinnkorrektur von größter Bedeutung, dass die Weichteile korrekt adaptiert würden. Dazu seien Pflaster und Verbände und die Kontrolle der Wundverhältnisse erforderlich. Eine solche Kontrolle sei nicht geschehen.
Entscheidung der Schlichtungsstelle
Die Schlichtungsstelle folgte dem Gutachten. Bei der Patientin lag ein verhältnismäßig weit vorstehendes Kinn vor. Es wurde eine Kinnkorrektur gewünscht. Bei der Operation selbst wurde anstelle der Verlagerung der Kinnspitze, wie laut Aufklärungsbogen Anfang Januar im Gespräch vereinbart, ein Abtragen der Kinnspitze durchgeführt. Die postoperative Nachsorge war unzureichend im Hinblick auf die Kontrolle der Wundverhältnisse.
Bei dem vorliegenden Eingriff handelte es sich um eine medizinisch nicht notwendige, ästhetische Operation. Es erfolgte keine ausreichende Operationsplanung. Außerdem wurde von dem ursprünglich gewählten Verfahren abgewichen, ohne dass die Patientin über diese Möglichkeit aufgeklärt worden war. Die Operation selbst ist somit nicht von einer Einwilligung der Patientin gedeckt und damit rechtswidrig erfolgt.
Gesundheitsschaden
Die Operation, die aufgrund fehlender Aufklärung über die Behandlungsmethode nicht hätte durchgeführt werden dürfen, und ihre Folgen sind als fehlerbedingt zu bewerten.
Das menschliche Kinn hat keine glatte, runde Oberfläche, sondern weist durch die Ansätze der mimischen Muskulatur zahlreiche kleine Vertiefungen und Erhöhungen auf. Diese sind insbesondere bei schlanken Patienten gut sichtbar und machen das individuelle Kinn aus. Durch das alleinige Abtragen von Knochen kann diese Individualität gestört werden. Bei adipösen Patienten fällt das nicht ins Gewicht, da diese Feinheiten durch das Weichgewebe maskiert werden. Insoweit hat das gewählte Verfahren Einfluss auf das Ergebnis der Kinnkorrektur. Bei dem eher schmalen Gesicht mit markantem Kinn – wie es auf den Fotografien zu erkennen ist – hätte eine Verlagerung der Kinnspitze nach unten und hinten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein besseres Ergebnis ermöglicht.
Nach der persönlichen Untersuchung durch den Gutachter sind folgende Schäden fehlerbedingt eingetreten: Das Kinn wirkt jetzt stärker abgerundet, der Abstand zwischen dem Lippenrot der Unterlippe und der Kinnspitze wirkt postoperativ eher kürzer als präoperativ.
Auch wenn der Gutachter bei seiner Untersuchung objektive Befunde erhoben hat, die sich von den Empfindungen der Patientin in ihrer Stärke unterscheiden, so ist doch festzustellen, dass diese psychische Belastung ebenfalls als fehlerbedingt zu bewerten ist.
Fazit
Grundsätzlich sorgt die fehlende Einwilligung dafür, dass der Eingriff selbst und alle seine Folgen als fehlerbedingt zu bewerten sind. Dabei ist es gleichgültig, ob es auch bei einem ordnungsgemäß aufgeklärten Eingriff zu diesem Ergebnis gekommen wäre.
Auch muss der behandelnde Arzt die Patientinnen und Patienten so nehmen, wie sie – auch in Bezug auf ihre Persönlichkeitsstruktur – sind. Auch psychische Schäden aufgrund einer Fehlverarbeitung des Geschehens sind grundsätzlich schmerzensgeldfähig. Der Schädiger hat grundsätzlich auch Beeinträchtigungen zu ersetzen, die auf einer durch die Verletzung ausgelösten seelischen Störung des Geschädigten beruhen. Etwas anderes gilt dann, wenn eine unbewusste Begehrensvorstellung in Form einer Begehrensneurose vorliegt (vgl. BGH Urteil vom 21. September 1982, VI ZR 130/81). Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn die Verletzung zum Anlass genommen wird, Schwierigkeiten im Arbeitsleben auszuweichen. Der Schädiger ist beweisbelastet. Der Beweis konnte hier nicht erbracht werden, sodass die psychischen Beeinträchtigungen ebenfalls als fehlerbedingt zu bewerten sind.