Incorrect Dietary Management of Patient with Malnutrition
Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 11/2005
Kasuistik
Eine zum Behandlungszeitpunkt 27-jährige Frau suchte wegen ihrer Ernährungsprobleme die Praxis eines Arztes für Allgemein- und Umweltmedizin auf. An anamnestischen Daten waren bekannt: Magersucht seit der Kindheit, früher Bulämie, langfristig, aber vermutlich nicht mehr aktuell Kokainkonsum. Eine gastroenterologische Abklärung des jetzt vorliegenden Mangelernährungszustandes war vor Beginn der hier zu beurteilenden Behandlung nicht erfolgt. Es bestanden bereits Erfahrungen mit alternativen Behandlungsverfahren. Aufgrund bekannter Daten war vor Behandlungsbeginn von folgenden Diagnosen auszugehen: Psychovegetative Dystonie mit über Jahre protrahiertem Verlauf, getriggert durch pathologisch empfundenen Kokainrausch, mangelhafte Ernährungssituation, keine erkennbaren organpathologischen Veränderungen.
Der behandelnde Arzt stellte folgende Symptome fest: „Allgemeine Schwäche bei Gewichtsverlust, mnestische Defizite, Störungen des Sensoriums, Geräusche und Schmerzen im Ohr und im Kopfbereich. Nach Durchführung eines Diagnoseverfahrens der biokybernetischen Naturheilmedizin ordnete der Arzt das Krankheitsgeschehen in ein Leaky Gut Syndrome (Gastroenteritis, Zöliakie, „kranker Darm“) und eine MCS-Umweltkrankheit („Vielfach-Chemikalienunverträglichkeit“) ein. In diesem Rahmen wurden insbesondere festgestellt: Zinkmangel, Störung der Darmflora, Neurotoxische Belastungen im Bereich des zentralen und peripheren Nervensystems, Schädigung von Intestinaltrakt, Leber und Endokrinum durch Wohngifte, Parasiten, Nahrungsmittelunverträglichkeit (ohne nähere Definition). Als Behandlung wurden eine Resonanztherapie „Parasiten“ (9/99) und eine Resonanztherapie „Polio/Wohngifte“ (10/99) durchgeführt, verbunden mit einer drastischen Ernährungsumstellung („Nahrungskorrektur“), die im einzelnen jedoch nicht näher bezeichnet wird. Unter dieser Therapie kam es nach etwa 4 Wochen zu einer Verschlechterung der Symptomatik mit allgemeiner Schwäche und Erschöpfungszuständen, Frieren, Haarausfall, Kopfhautekzem, Parodontose. Diese Symptome nahmen mit Fortsetzung der Therapie zu, so daß die Patientin nach etwas über 3 Monaten die Behandlung abbrach. Der weiterbehandelnde Arzt verordnete eiweißreiche Kost und hochdosiert Mineralpräparate entsprechend den laborchemisch bestätigten Defiziten. Hierunter trat eine Besserung der Symptomatik ein.
Die Patientin wirft dem erstbehandelnden Arzt vor, mit seinem Behandlungskonzept auf die Mangelsymptome falsch reagiert zu haben, wodurch weitere Gesundheitsschäden verursacht worden seien. Auch sei sie über die möglichen Folgen der naturheilkundlichen Therapie nicht ausreichend informiert worden.
Der in Anspruch genommene Arzt begründete in seiner Stellungnahme zum Behandlungsvorgang seine Maßnahmen auf der Grundlage naturheilkundlicher Prinzipien. Dem „Schulmediziner würden seine naturheilkundlichen Techniken und die Interpretation der Krankheitsphänomene befremdlich erscheinen“. Die im Laufe der Behandlung eingetretene Verschlechterung wird als sogenannte „Erstverschlimmerung“ positiv interpretiert.
In dem von der Schlichtungsstelle angeforderten gastroenterologischen Gutachten wird der Behandlungsverlauf anhand der Behandlungsunterlagen des Arztes noch einmal nachvollzogen. In der Beurteilung der im einzelnen getroffenen Entscheidungen und Maßnahmen kommt der Gutachter zu folgenden Wertungen:
Die durchgeführten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen mögen im Kontext naturheilkundlicher Verfahren begründet gewesen sein, aus der Sicht des medizinisch wissenschaftlichen Erfahrungsstandes seien sie aber nicht nachvollziehbar. Die Diagnose einer Gastroenteritis, einer Zöliakie sowie eines kranken Darmes ohne Endoskopie des Intestinaltraktes mit Probeexzision bei klinisch fehlendem gastroenterologischen Symptomen erscheine fragwürdig. Der angenommene Zinkmangel und die Homeostasestörung, Befunde, die letztlich den Verdacht auf das Vorliegen einer mangelhaften Ernährungssituation annehmen ließen, mit der Einleitung einer drastischen Ernährungsumstellung ohne Ergänzungspräparate zu therapieren, sei nicht sach- und fachgerecht, da hierdurch die Gesamtsituation noch verschlimmert werden mußte. Die unter der empfohlenen drastischen Ernährungsumstellung aufgetretene Symptomatik, die vom behandelnden Arzt als therapeutisch angestrebter Prozeß der sogenannten Erstverschlimmerung interpretiert wurde, stelle aus Sicht der wissenschaftlichen Medizin das Bild eines Mangelzustandes dar. Dementsprechend stelle die Fortsetzung der drastischen Ernährungsumstellung eine nicht sach- und fachgerechte Therapieform dar. Wenn die bereits bei der Erstvorstellung vorliegende eingeschränkte Ernährungssituation als solche erfaßt und bewertet worden wäre, hätte man die restriktive Diät unterlassen müssen, da sie die Mangelsituation mit Sicherheit verstärkt hätte. Als Folgen der fehlerhaften Behandlung werden der weitere Gewichtsverlust und der Schwächezustand, der massive Haarausfall und die verstärkte Parodontose gesehen.
Die Schlichtungsstelle schloß sich der Meinung des Gutachters an. Bei bereits vorliegendem Ernährungsmangelzustand mußte der Arzt davon ausgehen, daß durch seine strenge einseitige Diät vorbestehende Mangelzustände verstärkt und neue Mangelzustände hinzukommen würden, die zu Gesundheitsschäden der Patientin führten. Selbst wenn er ausführt, daß er von einem anderen Denkansatz als die wissenschaftliche Medizin ausgehe, so war er in besonderem Maße verpflichtet, darauf zu achten, daß durch seine der wissenschaftlichen Medizin nicht entsprechenden Behandlungskonzepte der Patientin kein Schaden entstehen darf. Wenn er in seiner Stellungnahme ausführt, daß er nicht bezweifelt, daß die Patientin bereits ausgeprägte Ernährungsmangelphänomene in sich trug, bevor sie zu ihm kam, dann ist die Verordnung einer den Mangel noch verstärkenden einseitigen Diät als Behandlungsfehler zu bewerten. Die im Gutachten bezeichneten Folgen des Behandlungsfehlers waren zu bestätigen unter Berücksichtigung der Tatsache, daß die Patientin bereits mit einem selbstverschuldeten Ernährungsmangelzustand in Behandlung trat. Daher waren die Schadenersatzansprüche nur auf die unter der Behandlung eingetretene Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu beziehen.
Abschließend legt die Schlichtungsstelle Wert auf die Feststellung, daß diese Kasuistik nicht als Kritik an der naturheilkundlichen Medizin zu verstehen ist. Hier waren vielmehr die Behandlungsmaßnahmen eines approbierten Arztes zu prüfen. Diese Maßnahmen mußten, unabhängig davon, auf welcher Grundlage sie getroffen wurden, im Hinblick auf die von vorn herein zu erwartenden und auch eingetretenen Schäden als fehlerhaft beurteilt werden.