Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Fehlerhafte Diagnose und Behandlung einer epiphysären Fraktur im Bereich des oberen Sprunggelenkes bei einem Kind

Misdiagnosis and Inappropriate Treatment of Child with an Epiphyseal Fracture in the Upper Ankle Region

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 03/2006

Kasuistik

Ein 10-jähriges Mädchen zog sich durch Sturz eine kombinierte knöcherne Verletzung im Bereich des rechten oberen Sprunggelenkes zu. Die Verletzung wurde in der Chirurgischen Abteilung eines Krankenhauses der Grund- und Regelversorgung behandelt und als epiphysäre Fraktur des Innenknöchels vom Typ AITKEN-I klassifiziert. Die Fraktur wurde zweimal geschlossen reponiert und für die Dauer von 6 Wochen in einem geschlossenen Unterschenkelgipsverband ruhiggestellt. Nach Entlassung aus dem Krankenhaus erfolgte die weitere Behandlung durch niedergelassene Ärzte unter der gleichen Diagnose. Nach Entfernung des Gipsverbandes trat nicht die erwartete Wiederkehr der normalen Sprunggelenksfunktion ein. Es verblieben Beschwerden mit Schwellungsneigung, Schmerzen und eingeschränkter Belastbarkeit. Die Teilnahme am Schulsportunterricht war bis auf Schwimmen auf Dauer nicht mehr möglich. Das rechte Sprunggelenk mußte weiterhin wegen einer Neigung zum Umknicken bandagiert werden. Im Rahmen weiterführender Untersuchungen, einschließlich CT und MRT, wurde festgestellt, daß es durch die Fraktur zu einem Dauerschaden am rechten oberen Sprunggelenk gekommen war.

Die Mutter des Kindes vermutete, daß die verbliebenen Beschwerden und Behinderungen auf eine primär fehlerhafte Behandlung der Verletzung zurückzuführen waren und wandte sich an die Schlichtungsstelle.

Seitens des Chefarztes der betroffenen chirurgischen Abteilung wurde schriftlich zu den Behandlungsmaßnahmen Stellung genommen. Die Verletzung wurde in diesem Schreiben als „Ephiphysiolyse der distalen Tibia- und Fibulaepiphyse mit Dislokation und Subluxationsstellung im oberen Sprunggelenk sowie Fraktur des Innenknöchels ohne wesentliche Dislokation“ bezeichnet. Diese Frakturbeschreibung war in der aktuellen Behandlungsdokumentation nicht enthalten. Eine innere Stabilisierung der Fraktur sei nicht erforderlich gewesen.

Die Schlichtungsstelle ließ den inzwischen über 5 Jahre zurückliegenden Behandlungsvorgang unfallchirurgisch beurteilen einschließlich einer klinischen und radiologischen Untersuchung.

Der Gutachter kommt unter Zugrundelegung der zum Unfallzeitpunkt bereits feststehenden und allgemein anerkannten Prinzipien der Diagnostik und Behandlung derartiger Behandlungen und Verletzungen zu folgenden Wertungen: Die Verletzung im Bereich des oberen Sprunggelenkes wurde nicht korrekt diagnostiziert, nicht korrekt beurteilt und folglich falsch behandelt. Entgegen der im Krankenhaus gestellten Diagnose lag eine kombinierte epiphysäre Verletzung am Außen- und Innenknöchel vor in Form einer sogenannten rein traumatischen Epiphysiolyse (AITKEN-O oder SALTER-HARRIS-I) am Außenknöchel und eine die Ephiphysenfuge kreuzende Fraktur am Innenknöchel (AITKEN-III oder SALTER-HARRIS IV). Zusätzlich bestand eine Stauchungsverletzung der tibialen Epiphysenfuge (Crush-Zone).

Bei der Ephiphysenfraktur vom Typ AITKEN-III des Innenknöchels handelt es sich um eine der wenigen Frakturen des Wachstumsalters, die primär operationspflichtig sind. Diese Frakturen müssen exakt anatomisch reponiert und in der Regel durch Schraubenosteosynthese stabilisiert werden. Das Unterlassen dieser operativen Therapie führt durch die frakturbedingte Stufe an der tibialen Gelenkfläche zu einer Fehlentwicklung des oberen Sprunggelenkes mit der Folge der vorzeitigen Gelenkabnutzung (posttraumatische Arthrose). Dieses ungünstige Ausheilungsergebnis war hier eingetreten.

Das hier vorliegende Verletzungsmuster hätte von einem erfahrenen Facharzt anhand der Röntgenbefunde korrekt beurteilt, die epiphysäre Innenknöchelfraktur hätte exakt reponiert und stabilisiert werden müssen. Bei unzureichender Erfahrung mit entsprechenden kindlichen Frakturen bzw. bei unsicherer röntgenologischer Beurteilungsmöglichkeit hätte die Verlegung in eine Einrichtung mit entsprechender Kompetenz erfolgen müssen. Die fehlerhafte Beurteilung und Behandlung der Verletzung hatte zur Folge:

  • Verformung der tibio-talaren Gelenkfläche (Muldenbildung an der Tibia), zu beurteilen als Präarthrose
  • Instabilität des oberen Sprunggelenkes mit Verbreiterung der Knöchelgabel, was zusätzlich zur vorzeitigen Gelenkabnutzung beiträgt.

Die Auswirkungen der Folgen des Behandlungsfehlers werden, auch in prognostischer Hinsicht sowohl für die private Sphäre als auch für die eingeschränkten späteren Berufswahlmöglichkeiten beschrieben: „Weitgehende Sportbefreiung; Berufe, die mit ganztägigem Stehen und/oder Laufen verbunden sind, kommen für die Berufswahl nicht in Frage. Da erst durch die spätere Belastung im Rahmen der Berufsausbildung bzw. der Berufsausübung eine genaue Einschätzung der entsprechenden Beeinträchtigungen beurteilt werden kann, sollte zu gegebenen Zeitpunkt eine erneute Unfallchirurgische Begutachtung erfolgen“.

Im unfallchirurgischen Gutachten wurden alle entscheidungserheblichen Einzelheiten ausgiebig erörtert und vor dem Hintergrund des derzeitigen ärztlichen Erfahrungsstandes sachlich beurteilt. Die Schlichtungsstelle folgte in der Beurteilung der Frage eines Behandlungsfehlers uneingeschränkt den Wertungen des Gutachters. Vorgetragene Einwände des in Anspruch genommenen Arztes konnten die Argumentation des Gutachters nicht entkräften. Die epiphysenkreuzende Innenknöchelfraktur beim Kind ist grundsätzlich anatomisch genau zu reponieren und exakt zu stabilisieren. Wird diese Fraktur zeitgerecht und korrekt behandelt, so ist mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eine völlige Wiederherstellung der Gelenkanatomie und der Gelenkfunktion sowie eine normale weitere Entwicklung des oberen Sprunggelenkes im Laufe des weiteren Wachstums zu erwarten. So wäre auch in diesem Falle bei korrekter Primärbehandlung ein bleibender Schaden mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit vermieden worden.

Autoren:

HV

Prof. Dr. med. Heinrich Vinz

Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover