Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Fehlerhaftes Übersehen einer Hüftdysplasie bei einem Säugling mit daraus folgender Notwendigkeit operativer Behandlung

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 3/2011.

Kasuistik

Im Alter von fünf Wochen wurde bei einem Mädchen zeitgerecht anlässlich der Vorsorgeuntersuchung U3 die Sonografie der Hüften durch den niedergelassenen Kinderarzt vorgenommen. Im Vorsorgeheft findet sich der Vermerk „Typ II a beidseits mit Alpha-Winkeln von 61 beziehungsweise 62 Grad“. Im neunten Lebensmonat klagte laut Dokumentation des Kinderarztes die Mutter darüber, dass das Kind nicht krabbele und dass es weine, wenn es auf die Knie gehe. Als das Kind 16 Monate alt war, berichtete die Mutter, dass die Tochter nur laufe, wenn man sie an beiden Händen festhalte. Der Kinderarzt stellte einen normalen Muskeltonus und die freie Beweglichkeit der unteren Extremität fest. Zwei Monate später, im Alter von 18 Monaten, diagnostizierte ein konsultierter Orthopäde bei der klinischen Untersuchung einen „starken Knietiefstand links und eine Hüftluxation links“. Die Diagnose wurde durch bildgebende Verfahren bestätigt. Das Röntgenbild im Alter von 19 Monaten zeigte dann ein vollständiges Fehlen des Pfannendaches mit Verschiebung des unzureichend ausgebildeten Schenkelkopfes nach oben und zur Seite.

Die darauf folgende Behandlung begann mit einer Einrenkung in Vollnarkose und nachfolgender Gipsfixierung. Anschließend wurden Beinschienen und dann, bis zum Alter von 26 Monaten, Spreizschienen angelegt. Als das Mädchen drei Jahre alt war, wurde eine operative Versorgung (varisierende intratrochantäre Osteotomie) vorgenommen.

Dem betreuenden Kinderarzt wurde die verspätete Diagnosestellung der Hüftdysplasie vorgeworfen.

Zu dem Vorwurf fehlerhaften Handelns entgegnete der Kinderarzt, dass durch Sonografie bei dem fünfwöchigen Mädchen eine Hüftdysplasie ausgeschlossen worden sei und es im weiteren Verlauf keine statomotorischen und neuromotorischen Auffälligkeiten gegeben habe. Die Mutter habe wohl über die motorische Entwicklung geklagt, der Untersuchungsbefund im Alter von 16 Monaten sei aber wiederum normal gewesen.

Gutachterliche Stellungnahme

Der von der Schlichtungsstelle beauftragte Gutachter kam zu folgenden Kernaussagen:
Die Ultraschallbilder, die anlässlich der U3 im Alter von fünf Wochen vorgenommenen Hüftuntersuchung angefertigt worden seien, wären falsch bewertet worden. Die mit dem EDV-System des Ultraschallgerätes einzugebenden Seitenangaben würden fehlen. Die nachträglich angebrachte handschriftliche Bezeichnung sei unzureichend. Auf einem derart als rechts deklarierten Bild zeige sich der Befund einer hochgradig pathologischen Hüfte. Neben der nicht ordnungsgemäßen Dokumentation sei das eine dringliche Therapiebedürftigkeit signalisierende Hüftbild falsch ausgemessen worden. Bei korrekter Bewertung hätte die Dysplasie erkennbar sein müssen. Auch wären bei den im weiteren Verlauf beschriebenen Auffälligkeiten in der motorischen Entwicklung des Kindes engmaschigere Kontrollen erforderlich gewesen. Das gelte insbesondere für die Tatsache, dass das Kind mit 16 Monaten noch nicht habe laufen können. Da im Alter von 18 Monaten eine manifest luxierte Hüfte vorgelegen habe, müsse man davon ausgehen, dass dieser Befund auch schon zwei Monate zuvor feststellbar gewesen ist.

Der Gutachter gelangte zusammenfassend zu der Einschätzung, dass die Hüftluxation durch den Kinderarzt zu einem früheren Zeitpunkt hätte erkannt und dann auch behandelt werden müssen. Das sei fehlerhaft unterlassen worden.

Bei rechtzeitiger Diagnose im Alter von fünf Wochen wäre zwar auch eine mehrwöchige Behandlung erforderlich geworden, diese hätte jedoch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem gesunden Hüftgelenk geführt. Die Gesundheitsbeeinträchtigungen im Zusammenhang mit der späteren Behandlung der Hüftluxation, wie die mehrmonatige Repositionsbehandlung und die Operation und mögliche Folgeschäden (frühzeitige Arthrose) seien allein fehlerbedingt eingetreten.

Entscheidung der Schlichtungsstelle

Die Schlichtungsstelle schloss sich den gutachterlichen Erwägungen an. Die Bewertung der Ergebnisse der Ultraschalluntersuchung im Alter von fünf Wochen war fehlerhaft. Die Folgen dieses Fehlers sind als besonders gravierend einzuschätzen, da das Zeitfenster für eine effektive Frühbehandlung ungenutzt verstreichen konnte. Die fehlerhafte Verkennung der manifesten Luxation im Alter von 16 Monaten ist dann für den weiteren Krankheitsverlauf ohne Belang gewesen.

Anträge mit dem Vorwurf verzögerter Diagnose einer kindlichen Hüftdysplasie liegen der Schlichtungsstelle relativ häufig vor. Oft ist die Sachlage dadurch kompliziert, dass frühe Ultraschalluntersuchungen, etwa bei der U2 im Alter von einer Woche, und bei der regelhaften Untersuchung der U3, noch normale Befunde ergeben. Solche Verläufe, bei denen erst unter der Belastung von dysplastischen Hüften erkennbare klinische Symptome auftreten (Luxation, Subluxation, Abspreizhemmung, Faltenasymmetrie, Probleme beim Gehen), kommen ebenso vor wie der hier beschriebene Fall mit bereits in den ersten Wochen erkennbaren sonographischen Auffälligkeiten.

Berichte von Eltern über Gangprobleme bei Kindern sollten immer ernst genommen werden und Anlass für eine weitere Exploration sein. Allerdings ist erschwerend, dass es eine recht weite Spanne für das Lebensalter gibt, in dem die ersten Schritte versucht werden. Als normal für freies Gehen des Kindes gilt ein Alter von zehn bis 18 Monaten.

Die Schlichtungsstelle hielt Schadenersatzansprüche für begründet und empfahl eine außergerichtliche Regulierung.

Autoren:

KEvM

Prof. Dr. med. Karl Ernst von Mühlendahl

Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover