Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Gelenkbeteiligende Mittelfingerfraktur, Fehlbeurteilung von Röntgenaufnahmen, unterlassene manuelle Untersuchung, Gelenkeinsteifung

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 06/2000

Einleitung
Bei der Ursachenforschung eines Fehlers ist es immer wieder verblüffend festzustellen, daß scheinbar harmlose Abweichungen von Standardmaßnahmen zu schwerwiegenden Folgen führen könne. Der mit der Verletzung konfrontierte Arzt hat mit dem Schema: Befragung nach Unfallhergang, Besichtigung der verletzten Region, manueller Untersuchung und bildgebenden Verfahren eigentlich ausreichende Möglichkeiten zu differentialdiagnostischen Erwägungen und zielgerichteter Therapie. Der Verzicht auf eine dieser selbstverständlichen Maßnahmen kann dann aber schon zur Fehlbeurteilung und unsachgemäßer Behandlung sowie zum Schaden führen.

Kasuistik

Der Patient war am 06.12.1995 mit dem Motorrad gestürzt und auf beide Hände gefallen. Er zog sich dabei einen minimal dislozierten Speichengriffelfortsatzbruch rechts und an der linken Hand neben Schürfungen, Stauchungen und Prellungen einen Verrenkungsbruch im Mittelgelenk des Ringfingers zu. Bei der Erstuntersuchung durch den in Anspruch genommenen Chirurgen bestand Schwellung und Blauverfärbung im Mittelgelenksbereich, auf angefertigten Röntgenaufnahmen wurde kein Hinweis für frische Frakturen gefunden und eine zystische Aufhellung an der Basis des Mittelgliedknochens beschrieben. Knapp eine Woche später wurde durch einen anderen Chirurgen und nach Röntgenkontrolle der Verdacht auf eine frische Fraktur geäußert. Der Patient wurde dann in der Zeit vom 15.12.1995 – 05.02.1996 in einer Spezialabteilung behandelt.

Die nach der Schürfung aufgetretene Infektion am Ringfinger ließ eine zeitgerechte operative Revision der nachgewiesenen Basisverletzung des Mittelgliedes mit Teilverrenkung nicht mehr zu, es mußte mit immobilisierendem Gipsverband behandelt werden. Es verblieben erhebliche Bewegungseinschränkungen im Ringfinger, aber auch den benachbarten Langfingern. Bei einer gutachterlichen Untersuchung im April 1996 wurde die MDE auf 20 % geschätzt.

Der Patient machte unzureichende Primärdiagnostik für verzögerte und dann nur noch unvollkommene mögliche Behandlung, insbesondere der Ringfingerverletzung, geltend. Er bemängelte aber auch eine nicht erfolgte Ruhigstellung des Speichengriffelfortsatzbruches an der rechten Hand.

Der in Anspruch genommene Chirurg räumte zwar eine Speichengriffelfraktur rechts ein, diese hätte aber nicht unbedingt durch Gipsverband behandelt werden müssen. Bezüglich der Ringfingerverletzung links bestritt er das Vorliegen einer frischen Verletzung.

Gutachterliche Beurteilung

Der von der Schlichtungsstelle eingeschaltete Gutachter führte aus, daß zweifelsfrei ein minimal dislozierter Speichengriffelfortsatzbruch rechts und ein Verrenkungsbruch im Mittelgelenk des Ringfingers vorgelegen haben. Der Speichengriffelfortsatzbruch hätte nicht unbedingt durch immobilisierenden Gipsverband behandelt werden müssen. Auch ohne diese Maßnahme sei er in üblicher Zeit und idealer Stellung verheilt. Ein eventuell angelegter Gipsverband hätte kurzfristig Beschwerden lindern können.

Bei sofortiger Diagnose wäre aber noch am Unfalltag eine Reposition des Verrenkungsbruches im Ringfingermittelgelenk angezeigt und möglich gewesen. Man hätte zumindest durch Drahtspickung das erzielte Ergebnis sichern können. Ein disloziert bleibendes Basisbruchstück hätte in ordnungsgemäße Position gebracht werden können.

Der Gutachter wies darauf hin, daß bei solchen Verletzungen durch immobilisationsbedingte Kapselschrumpfung eine Bewegungseinschränkung verblieben kann, daß im vorliegenden Fall aber auf jeden Fall eine deutliche Verlängerung der Schmerzphase und mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auch ein Teil der funktionellen Beeinträchtigung auf die primären Versäumnisse bei der Diagnostik zurückzuführen seien. Nach Ansicht des Gutachters war fehlerbedingt ein Teil der Leistungsminderung der linken Hand, zumindest ein vorzeitiger Verschleiß im Ringfingermittelgelenk und ein wesentlicher Teil der Bewegungseinschränkung im Mittelgelenk anzusehen.

In Kenntnis des Gutachtens wandte der in Anspruch genommene Chirurg ein, daß er ehemals eine frische Verletzung nicht erkennen konnte. Er hab davon ausgehen können, daß mit dem Unfall nicht zusammenhängende Veränderungen vorlagen.

Beurteilung der Schlichtungsstelle

Ganz unabhängig davon, daß der nachbehandelnde Chirurg, die Ärzte der Handchirurgischen Klinik, der für die Berufsgenossenschaft tätige Chirurg wie auch der Schlichtungsgutachter eindeutig einen frischen Verrenkungsbruch am Ringfingermittelgliedknochen erkennen konnte, hat auch der für die Schlichtungsstelle tätige Unfallchirurg diese Verletzung bestätigen müssen.

Es handelte sich um einen Stauchungsbruch an der Basis des Ringfingermittelgliedknochens mit Dislokation eines großen gelenkbildenden Bruchstückes. Scharfe Bruchkanten und die Verrenkungssituation konnten nicht mit einer vorbestehenden zystischen Veränderung verwechselt werden. Auch der Speichengriffelfortsatzbruch rechts war eindeutig als frisch zu bezeichnen. Der Bruchspalt klaffte etwas, diese Verletzung war nicht schwerwiegend und ist auch in idealer Stellung in vertretbarer Zeit verheilt. Eine kurzfristige Immobilisation über 10 – 14 Tage hätte anfängliche Beschwerden lindern können.

Die Einlassung des in Anspruch genommenen Arztes, daß der Patient eine Gipsverbandbehandlung verweigert hätte, konnte nicht überzeugen. Er hatte den Bruch nicht erkannt und wenn überhaupt, wegen geklagter Beschwerden diesen Gipsverband vorgeschlagen. Da er dem Patienten keine sachgemäße Diagnose nennen konnte, war dieser auch nicht in der Lage, sich zu einer Gipsbehandlung zu entscheiden. Die Folgen dieses Fehlers konnten aber vernachlässigt werden.

Bezüglich der Verrenkungsbruchverletzung im Ringfingermittelgelenk hätte die richtige Behandlung in sofortiger Reposition, unter Umständen blutiger Reposition bestehen müssen. Das dislozierte Basisbruchstück war unbedingt repositionsbedürftig. Es hätte durch einen feinen Kirschnerdraht fixiert werden können. Immobilisation durch transfixierenden Kirschnerdraht und Gipsverband wären erforderlich gewesen. Diese über drei bis vier Wochen erforderliche Maßnahme hätte durch Kapselschrumpfung zwar zu Bewegungseinschränkungen geführt, das Gelenk hätte aber durch nachfolgende Übungsbehandlung zu vertretbarer Funktion geführt werden können. Durch unsachgemäße Behandlung ist es zu schwerwiegender Gebrauchsbeeinträchtigung im Ringfingermittelgelenk und auch zu Leistungsminderung der Hand sowie zu Schmerzhaftigkeit gekommen. Die begleitenden Folgen fehlerhafter Diagnostik und Behandlung werden auf Dauer eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 10 % bewirken.

Dies war nach Ansicht der Schlichtungsstelle zu einem wesentlichen Teil auf Versäumnisse bei primärer Untersuchung zurückzuführen. Es wurden deshalb Schadenersatzansprüche für begründet gehalten und empfohlen, die Möglichkeit außergerichtlicher Regulierung zu prüfen.

Fazit

Der Verzicht auf eine der obligaten Methoden primärer Diagnostik, in diesem Fall die einfache klinische Prüfung von Funktion und Schmerzhaftigkeit einer durch Schwellung, Schürfung und Blutergußverfärbung gekennzeichnete Handregion, hätte mit dem Nachweis von Instabilität und Schmerzhaftigkeit von der Diagnose einer unfallunabhängig bestehenden zystischen Veränderung Abstand nehmen lassen und zu sachgemäßer Therapie mit wahrscheinlich deutlich besserem Endergebnis geführt. Die alleinige Beschränkung auf nur eine Säule differentialdiagnostischer Abklärung, hier bildgebendes Verfahren, ist unzureichend und damit fehlerhaft.

Autoren:

WDS

Dr. med. W.-D. Schellmann

Facharzt für Unfallchirurgie
Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover