Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 5/2012
Kasuistik
Der 72-jährige Patient suchte am 28. September 2008 mit der Angabe von Schluckbeschwerden und am 3. November 2008 wegen geschwollener Halslymphknoten die Praxis seines Hausarztes auf. Anamnestisch lagen keine typischen Risikofaktoren für HNO-Tumore vor (zum Beispiel auffälliger Tabak- und/oder Alkoholkonsum).
Eine am 25. November 2008 durchgeführte Ultraschalluntersuchung des Halses bestätigte das Vorliegen vergrößerter Lymphknoten nicht. Auffälligkeiten im Bereich der Schilddrüse führten zur Überweisung an einen Endokrinologen, der in der Bildgebung rechts neben der Schilddrüse eine zystische Raumforderung 3,5 mal 2,4 mal 2,6 Zentimeter nachweisen konnte, die nach dem Ergebnis der Punktionszytologie als laterale Halszyste klassifiziert wurde. Der Endokrinologe empfahl die HNO-ärztliche weitere Überwachung des Befundes und sah keinen aktuellen Handlungsbedarf.
In der Folgezeit kam es zu wiederholten Vorstellungen in der Hausarztpraxis ohne Angabe von Hals-/Schluckbeschwerden. Diesbezügliche Symptome sind erstmals wieder anlässlich der Vorstellung Anfang Oktober 2009 in den Krankenunterlagen verzeichnet. Zu diesem Zeitpunkt sowie bei vier weiteren Vorstellungen im Oktober und November 2009 ging der Hausarzt von einer infektiösen Genese aus und verordnete symptomatische Maßnahmen.
Anfang Februar 2010 stellte sich der Patient mit einer Schwellung an der rechten Halsseite in der Hausarztpraxis vor, wurde zum HNO-Arzt überwiesen und schließlich Ende Februar 2010 zur stationären Aufnahme in die HNO-Klinik eingewiesen. Die Diagnostik ergab ein Hypopharynxcarcinom rechts im lokal fortgeschrittenen Stadium. Nach einer kombinierten Radio-/Chemotherapie mit anschließend klinischem Nachweis einer Vollremission wurde im Juli 2010 die funktionelle Neck Dissection rechts vorgenommen, die das günstige Resultat der konservativen Tumortherapie bestätigte. Im weiteren Verlauf fanden sich keine Hinweise auf ein Tumorrezidiv.
Gutachten[/bereich]
Nach der Vorstellung bei dem Endokrinologen sei der Hausarzt zunächst berechtigt gewesen, davon auszugehen, dass es sich bei dem Befund an der rechten Halsseite um eine gutartige Zyste (laterale Halszyste) gehandelt habe. Ein akuter Handlungsbedarf habe sich hieraus nicht ergeben. Therapie der Wahl bei lateralen Halszysten sei im Bedarfsfall (zum Beispiel Sekundärinfektionen) die operative Entfernung der Zyste. Weiterführende Maßnahmen, nämlich die Überweisung in HNO-ärztliche Mitbehandlung, wären erforderlich gewesen, nachdem der Patient Anfang Oktober 2009 wegen erneuter Halsbeschwerden bei dem Hausarzt vorstellig geworden sei. Die Beschwerden/Befunde zu diesem Zeitpunkt hätten Anlass sein müssen, das Untersuchungsergebnis von November 2008 (laterale Halszyste) fachärztlich zu kontrollieren. Die Karzinomerkrankung wäre auch bei richtigem ärztlichen Handeln aufgetreten. Die Zeitdauer bis zur Diagnosestellung wäre jedoch um etwa 4 Monate verkürzt worden. Inwiefern sich dies auf die Tumorausbreitung und die daraus resultierenden Therapien und langfristigen Behandlungserfolge ausgewirkt hätte, könne er nicht klären.
Entscheidung der Schlichtungsstelle
Der Patient hätte im Oktober 2009 in HNO-ärztliche Mitbehandlung überwiesen werden müssen. Diese Überweisung war nicht nur zum Nachweis/Ausschluss einer etwaigen Tumorkrankheit, sondern auch zur Kontrolle der im November 2008 nachgewiesenen lateralen Halszyste mit der Frage der Operationsnotwendigkeit geboten. Dies wurde fehlerhaft unterlassen. Rückblickend war davon auszugehen, dass es in der Zeitspanne zwischen November 2008 und Oktober 2009 zur Ausbildung des im Februar 2010 diagnostizierten Hypopharynxcarcinoms gekommen ist. Der genaue Zeitpunkt der malignen Entwicklung war nicht bestimmbar.
Angesichts der unterlassenen Befunderhebung war auch eine mögliche Verlagerung der Beweislast auf die Behandlungsseite zu erwägen. Dazu kommt es ausnahmsweise dann nicht, wenn jeglicher haftungsbegründende Ursachenzusammenhang äußerst unwahrscheinlich ist. Zur Progression des unbehandelten Hypopharnxycarcinoms sind für den Einzelfall keine konkreten Aussagen möglich. Es ist nach ärztlicher Erfahrung jedoch äußerst unwahrscheinlich, dass eine Diagnoseverzögerung von einigen Wochen beziehungsweise wenigen Monaten das Tumorstadium in Hinblick auf die Prognose messbar beeinflusst. Deshalb kam eine Beweislastverschiebung zugunsten des Patienten nicht in Betracht.
Bei Diagnosestellung im Oktober 2009, also etwa vier Monate früher als tatsächlich erfolgt, wären mit überwiegender Wahrscheinlichkeit die gleichen Behandlungsmaßnahmen erforderlich gewesen und durchgeführt worden, wie sie ab Februar 2010 praktiziert wurden. Diesbezüglich ist dem Patienten kein nachweisbarer Schaden entstanden (Beweislast patientenseits).
Jede Diagnose- beziehungsweise Therapieverzögerung eines Krebsleidens bedeutet eine statistische Prognoseverschlechterung, die allerdings nicht verbindlich für das individuelle Schicksal eingeschätzt werden kann. Im vorliegenden Fall war nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit zu beweisen, dass bei einer frühzeitigeren Karzinomdiagnose der Verlauf messbar hätte beeinflusst werden können.
Eine − zu der ohnehin durch das Krebsleiden vorhandene − zusätzliche psychische Belastung durch das Wissen um die Behandlungsverzögerung und eine statistische Prognoseverschlechterung ist allerdings als Gesundheitsbeeinträchtigung zu bewerten und damit schmerzensgeldfähig.
Die Schlichtungsstelle hielt Schadensersatzansprüche im Hinblick auf die zusätzliche psychische Belastung für begründet.