Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 5/2004
Einleitung
10 % aller Schulterverrenkungen betreffen die hintere Luxation. Die Diagnose wird oft gar nicht oder verspätet gestellt. Die Verletzung betrifft bevorzugt bewußtseinsgetrübte oder alkoholisierte ältere Patienten.
Kasuistik
Ein 61-jähriger Patient stürzte im Rahmen einer zerebral-ischämischen Synkope und war danach über 1 Stunde bewußtlos. Im Notarztprotokoll wurde der Verdacht auf eine Schultergelenksluxation rechts geäußert. Der Patient wurde zunächst in der Notfallambulanz eines Städtischen Krankenhauses untersucht und anschließend 9 Tage in der Chirurgischen Abteilung dieses Krankenhauses stationäre behandelt. Bei der Aufnahmeuntersuchung wurde das rechte Schultergelenk in den Ebenen a. P. und transthorakal geröntgt. Die Röntgenaufnahmen wurden fachradiologisch mit „keine Fraktur, keine Luxation“ befundet. Weitere Röntgenaufnahmen wurden während der stationären Behandlung nicht angefertigt. Die Schulterverletzung wurde mit Voltarensalbe und Eiskühlungen behandelt. Bei der Entlassung wurde eine gebesserte Schulterbeweglichkeit festgestellt, wobei ein schriftlich fixierter Untersuchungsbefund der rechten Schulter in den Behandlungsunterlagen nicht enthalten ist.
Wegen anhaltender Bewegungseinschränkungen und Schmerzen veranlaßte der nachbehandelnde Hausarzt 8 Wochen nach dem Unfall Röntgenkontrollaufnahmen einschließlich einer transaxillären Aufnahme des rechten Schultergelenkes. Diese ergaben nun eindeutig den Befund einer dorsalen Schultergelenksluxation mit einer großen Impressionszone am Oberarmkopf. Der Patient wurde kurze Zeit darauf in einer Orthopädischen Klinik operiert. Der zerstörte Oberarmkopf wurde entfernt und durch ein Implantat ersetzt. Spätere Röntgenkontrollen ergaben einen korrekten Sitz der Kopfprothese. Es verblieben Beschwerden und Funktionseinschränkungen des rechten Schultergelenkes, die mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 vom Hundert bzw. einer Gebrauchseinschränkung des rechten Armes um 1/3 eingeschätzt wurden.
Der Patient sah in der verspäteten Behandlung seiner Schultergelenksluxation die Ursache für den eingetretenen Dauerschaden.
Der von der Schlichtungsstelle beauftragte Gutachter stellt zur Frage des Behandlungsfehlers fest: Eine korrekte klinische Untersuchung hätte von vornherein auf eine Schultergelenksluxation, durch die charakteristische federnde Fixation in Adduktion und Innenrotation speziell auf die seltene dorsale Luxation, hinweisen müssen. Auf die fehlende Dokumentation des klinischen Untersuchungsbefundes wird hingewiesen. Bereits auf der a.P.-Aufnahme vom Unfalltag seien indirekt Hinweise auf die hintere Luxation zu erkennen gewesen. In Verbindung mit dem klassischen klinischen Untersuchungsbefund hätte zwingend an eine (hintere) Schulterluxation gedacht werden müssen. Diese wäre durch eine transaxilläre Röntgenaufnahme des Schultergelenkes zu verifizieren gewesen einschließlich der Beurteilung von Art und Ausmaß einer begleitenden Impressionsfraktur an der Gelenkfläche des Humeruskopfes. Die unterlassene exakte klinische Untersuchung in Verbindung mit der unterlassenen korrekten Röntgendiagnostik am Unfalltag werden als fehlerhaft gewertet. Bei sofortiger Diagnostik wäre die Luxation zunächst geschlossen reponiert worden. Wegen der umfangreichen Impressionszone am Humeruskopf mit Zerstörung fast der Hälfte seiner Gelenkfläche wäre jedoch auf jeden Fall ein Sekundäreingriff mit Ersatz des zerstörten Humeruskopfes zur Verhinderung von Reluxationen und zur Erhaltung einer akzeptablen Schultergelenksfunktion erforderlich gewesen. Als Folge des Behandlungsfehlers werden bezeichnet:
Verzögerung der definitiven Behandlung um 7 Wochen, hierdurch bedingt Schmerzen, insbesondere auch durch den nicht indizierten Physiotherapieversuch, sowie die Funktionseinschränkung des rechten Armes. Die verspätete Diagnosestellung und Behandlung hatte jedoch keinen erkennbaren Einfluß auf das Spätergebnis, so daß ein fehlerbedingter Dauerschaden nicht definiert werden könne. Der Ersatz des Humeruskopfes war durch das primäre Verletzungsmuster von vornherein vorgegeben. Dieser Eingriff und der verbliebene Funktionsverlust des rechten Schultergelenkes waren daher nicht fehlerbedingt.
Die Schlichtungsstelle folgt in allen Punkten der Argumentation des Gutachters. Schadenersatzansprüche waren begründet. Eine außergerichtliche Regulierung wurde empfohlen.