Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Iatrogene Oesophagusperforationen

Iatrogenic, Esophageal Perforation

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 10/2008

Einleitung
Akut einsetzende, unerträgliche Kopfschmerzen, insbesondere bei fehlender Vorgeschichte in Bezug auf mögliche Ursachen, bedürfen zwingend der unverzüglichen diagnostischen Klärung mit allen gebotenen Mitteln.

Instrumentelle Perforationen des Oesophagus werden bei Oesophagussondierungen aller Art beschrieben, unter anderem bei Oesophagogastroskopien, Platzierung von Magensonden und transoesophagealen Echokardiographien (TEE). Eine durch fehlerhaftes Vorgehen verursachte Oesophagusperforation ist nur selten direkt beweisbar. In der Regel wird deshalb diese Komplikation aus haftungsrechtlicher Sicht als unverschuldet beurteilt werden. Bei Beurteilung in einem Haftungsverfahren steht daher die Prüfung des ärztlichen Handelns bezüglich der rechtzeitigen Diagnostik und Therapie im Vordergrund.

Klinisches beziehungsweise radiologisches Leitsymptom einer iatrogenen Oesophagusperforation ist das unmittelbar nach der Oesophagusverletzung auftretende kollare Hautemphysem beziehungsweise das Mediastinalemphysem. Die Letalität der iatrogenen Oesophagusperforation wird mit 10 bis 30 Prozent angegeben, abhängig vom Zeitpunkt der Durchführung einer wirksamen Therapie und vom Lebensalter.

Fall 1

Oesophagusperforation bei Ableitungsversuch einer transoesophagealen Echokardiographie (TEE)

Eine 86-jährige Frau wurde wegen eines fieberhaften bronchopulmonalen Infektes und einer Exsikkose in der Inneren Abteilung eines Krankenhauses der Grund- und Regelversorgung stationär aufgenommen. Der akute Krankheitszustand ließ sich nach entsprechender Therapie in wenigen Tagen beherrschen. Am siebten Behandlungstag wurde im Rahmen der Abklärung einer möglichen kardialen Erkrankung eine TEE angeordnet. Der Untersuchungsgang ist wie folgt dokumentiert:
„Erschwertes Vorschieben im Rachenbereich. Erfolgreiches Vorschieben beim vierten Versuch, wobei dieses nur bis 23 Zentimeter möglich ist. Ein weiteres Vorschieben lässt sich nicht ermöglichen, differential-diagnostisch durch Divertikel. Untersuchung wird daher abgebrochen.“ Die Patientin habe beim Versuch, das Instrument weiter vorzuschieben, über Schmerzen im Rücken geklagt.

Der Gesundheitszustand der Patientin verschlechterte sich kontinuierlich mit Schmerzangaben im Thoraxbereich und respiratorischer Symptomatik. Die Thoraxaufnahmen am Untersuchungstag und zwei Tage später ergaben einen „Seropneumothorax mit Spiegelbildung“. Daraufhin wurde eine Pleuradrainage angelegt, die zur Wiederentfaltung der rechten Lunge führte. In einer sich anschließenden Kontrastmittelpassage des Oesophagus wurde eine „Oesophagusfistel“ festgestellt, was zur Verlegung in eine thoraxchirurgische Klinik führte.

Dort ließ sich oesophagoskopisch ein dicht unterhalb des Oesophaguseingangs, dorsal gelegenes Leck von fünf Millimeter Durchmesser feststellen. Die Behandlung bestand in chirurgischer Revision der im Halsbereich gelegenen Perforationsstelle, lokaler Wund- und Thoraxdrainage, Ausschaltung der oralen Nahrungspassage durch Anlagen einer PEG. Die kollare Oesophagusfistel schloss sich unter dieser Therapie nach etwa drei Monaten. Wegen fortbestehender Störungen der peroralen Nahrungsaufnahme musste die Ernährung über die PEG acht Monate lang durchgeführt werden. Nach Entlassung aus der thoraxchirurgischen Klinik wurde die Patientin noch fünf weitere Monate in einem Pflegeheim behandelt.

Die Patientin wirft der erstbehandelnden Klinik vor: Die Oesophagusperforation sei ärztlich verschuldet, die Diagnose wäre nicht rechtzeitig gestellt, die Komplikation somit nicht rechtzeitig behandelt worden. Der nachfolgend schwere Krankheitsverlauf sei auf diese Behandlungsfehler zurückzuführen.

Die verantwortlichen Ärzte der in Anspruch genommenen Klinik äußerten sich zu diesen Vorwürfen:
Das EKG habe Hinweise auf eine koronare Herzkrankheit gegeben, die ausreichende Beurteilung sei nur über eine TEE möglich gewesen. Als die Patientin über Schmerzen klagte, sei die Untersuchung sofort abgebrochen worden. Eine Oesophagusverletzung wäre eine sehr seltene Komplikation bei einer TEE. Nach Diagnose der Verletzung zwei Tage später sei die Patientin unverzüglich in eine thoraxchirurgische Klinik verlegt worden.

Der von der Schlichtungsstelle beauftragte internistische Gutachter beurteilte den Vorgang wie folgt:
Die Patientin wies weder durch klinische noch durch paraklinische Befunde Symptome einer dringlich zu klärenden Herzerkrankung auf. Unter diesen Umständen sei die Indikation für die invasive TEE nicht zwingend gewesen. Als fehlerhaft könne die Indikationsstellung angesichts des weiten Ermessensspielraumes für diese Entscheidung jedoch nicht gewertet werden. Über die Möglichkeit einer Oesophagusperforation sei die Patientin laut Aufklärungsbogen informiert gewesen. Die Verletzung selbst wird vom Gutachter als eingriffsimmanente, unverschuldete Komplikation gesehen. Die Diagnostik dieser Komplikation wird dagegen beanstandet, wobei Fehleinschätzungen und ärztliche Kommunikationsmängel aufgezeigt werden: Bereits die Thoraxaufnahme vom Untersuchungstag habe ein Hautemphysem in den Halsweichteilen aufgewiesen. Dieser Befund sei nicht beschrieben beziehungsweise nicht weitergeleitet worden. Er wäre aber richtungsweisend für das weitere diagnostische und therapeutische Prozedere gewesen. Die Diagnose der Oesophagusperforation sei fehlerhaft zwei Tage zu spät gestellt worden. Bei rechtzeitiger Diagnose hätte die chirurgische Therapie frühzeitig im Sinne der Primärversorgung der Oesophagusverletzung erfolgen können. Die weiteren Komplikationen hätten vermieden werden können, Spätschäden wären aller Wahrscheinlichkeit nach nicht aufgetreten.

Die Schlichtungsstelle folgte in der Beurteilung der fehlerbedingten Verzögerung der Diagnose der Oesophagusperforation den Wertungen des Gutachters. Bezüglich der Indikationsstellung zur TEE wird jedoch im Gegensatz zum Gutachter von einem eindeutigen Indikationsfehler ausgegangen. Die Schlichtungsstelle bezieht sich hier ausdrücklich und allein auf die vom Gutachter selbst vorgetragenen diesbezüglichen Einwände. Es bestanden keinerlei Hinweise auf eine dekompensierte Herzschwäche, eine koronare Herzkrankheit, intrakardiale Thromben (durchgängiger Sinusrhytmus), Endokarditis. Der Gutachter hielt zusammenfassend in Anbetracht der Gesamtsituation „die Indikation für eine invasive TEE nicht für gegeben“. Diese Feststellung relativierte er später, indem er eine „relative Indikation“ zugesteht, ohne hierfür – entgegen der obigen Aufstellung fehlender Indikationen – begründende Tatsachen zu nennen. Die Indikationsstellung zur TEE war somit fehlerhaft. Dieser Fehler war ursächlich für die Oesophagusperforation mit allen sich aus dieser Komplikation ergebenden Folgen für den Krankheitsverlauf.

Fall 2

Oesophagusperforation bei einer Oesophagogastroskopie – Unterlassene zielgerichtete Diagnose

Bei einem 69 Jahre alten Mann wurde nach vorangegangenem Herzinfarkt in einer Klinik für Herz-Thorax-Chirurgie eine koronare Bypassoperation durchgeführt. Die Operation verlief planmäßig. Am Tage nach der Operation trat Erbrechen von hämatinhaltigem Mageninhalt auf, deshalb wurde noch am gleichen Tage eine Oesophagogastroskopie vorgenommen. Ein pathologischer Befund ließ sich nicht feststellen. Nach der Gastroskopie entwickelte sich ein ausgedehntes Hautemphysem im Bereich von Thorax, Hals und Gesicht. Aufgrund dieses Befundes wurde klinisch eine bei der Gastroskopie aufgetretene Oesophagusperforation vermutet, diese Vermutung wurde dokumentiert. Eine sofortige gezielte Klärung dieser Verdachtsdiagnose erfolgte nicht. Einen Tag später wurde durch konventionelle Röntgenaufnahmen ein Pneumothorax rechts festgestellt. Bei Anlage der Pleuradrainage entleerte sich eine größere Menge hämorrhagischen Exsudates. Noch am gleichen Tage entwickelte sich eine Ateminsuffizienz, die Intubation und Beatmung erforderlich machte. Ein an diesem Tage angefertigtes Thorax-CT ohne Kontrastmittel ergab ein ausgedehntes Mediastinal- und Hautemphysem, möglicherweise eine Verbindung zwischen Trachea und Mediastinum. Im weiteren Verlauf entwickelten sich beidseitig Pneumonien und Pleuraempyeme, die zunächst konservativ behandelt wurden. Mehrfach wiederholte Computertomographien ergaben jeweils keinen Nachweis einer Oesophagusperforation. 14 Tage nach der Gastroskopie wurde das linksseitige Pleuraempyem operativ ausgeräumt mit Revisionsthorakotomie am folgenden Tag, ohne dass bei diesen Eingriffen die Ursache des Empyems geklärt wurde. Bei fortlaufender Verschlechterung des septischen Zustandsbildes wurde 20 Tage nach der Gastroskopie durch Kontrast-CT eine Leckage im unteren Oesophagusdrittel mit Kontrastmittelübertritt in die linke Pleurahöhle verifiziert. Eine drei Tage später erneut durchgeführte Re-Thorakotomie konnte die fortschreitende Sepsis nicht verhindern. Trotz maximalen intensivmedizinischen Aufwands verstarb der Patient infolge weiterer septischer Komplikationen am Organversagen. Die Angehörigen des Verstorben warfen der in Anspruch genommenen Klinik Versäumnisse im Zusammenhang mit der Behandlung der Oesophagusperforation vor, die ursächlich für den tödlichen Ausgang gewesen sei.

Zum Behandlungsverlauf nahmen die beteiligten Fachgebiete Thoraxchirurgie und Anästhesiologie/Intensivmedizin Stellung: Die notwendigen diagnostischen Maßnahmen seien unverzüglich eingeleitet und konsequent weitergeführt worden. Die anfangs vermutete Oesophagusperforation sei zunächst nicht zu bestätigen gewesen. Die Therapiemaßnahmen hätten den jeweiligen Erfordernissen entsprochen.

Das von der Schlichtungsstelle angeforderte viszeralchirurgische Gutachten zeichnete den Behandlungsverlauf noch einmal zusammenfassend nach. In der Beurteilung der einzelnen Entscheidungen und Maßnahmen kamen die Gutachter zu folgenden Wertungen:

  • Die Gastroskopie sei wegen des Hämatinerbrechens indiziert gewesen. Die Oesophagusperforation wäre im Zusammenhang mit der Oesophagogastroskopie aufgetreten. Hinweise auf fehlerhaftes Vorgehen bei der unter technisch erschwerten Bedingungen durchgeführten Gastroskopie ließen sich nicht erkennen, so dass die Oesophagusperforation als unverschuldete Komplikation zu beurteilen sei.
  • Das unmittelbar nach der Gastroskopie aufgetretene Hautemphysem wäre ein zwingender Hinweis auf eine im Zusammenhang mit der Gastroskopie eingetretenen Eröffnung des Mediastinum gewesen. Die Verdachtsdiagnose einer Oesophagusperforation sei geäußert und dokumentiert worden. Die notwendige diagnostische Abklärung wäre jedoch als ebenso ungenügend anzusehen wie auch die auf die Behandlung des Pleuraempyems abzielenden Maßnahmen. Als erster diagnostischer Schritt hätte entweder eine sofortige Oesophagogastroskopie oder eine Kontrastdarstellung des Oesophagus mittels Gastroskopie erfolgen müssen. Beide seien fehlerhaft unterblieben. Auch der folgenden, im wesentlichen bildgebenden Diagnostik fehlte im Hinblick auf den hochgradigen Verdacht der Oesophagusperforation die nötige Konsequenz. Die Unterlassung der zielführenden diagnostischen Maßnahmen sei als fehlerhaft anzusehen. Der tödliche Ausgang läge in der iatrogenen Oesophagusperforation begründet.

Zu der Kausalität stellen die Gutachter fest: Die Letalität iatrogener Oesophagusperforationen betrage etwa zehn bis 20 Prozent. Im hier zu beurteilenden Fall habe ein erhöhtes Risiko infolge schwerer koronarer Gefäßerkrankung vorgelegen. Ob bei rechtzeitiger Diagnose und zielgerichteter Therapie ein günstigerer Verlauf eingetreten wäre, sei nicht zu entscheiden.

Die Schlichtungsstelle folgte in der Beurteilung der Behandlungsfehler dem Gutachten.

Im hier zu beurteilenden Fall konnte nicht nachgewiesen werden, dass der Perforation ein fehlerhaftes technisches Vorgehen zugrunde lag. Das im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Gastroskopie aufgetretene Mediastinal- und Hautemphysem musste in erster Linie an eine Oesophagusperforation denken lassen. Dieser Verdacht wurde auch geäußert. Von dieser Diagnose war bis zum Beweis des Gegenteils auszugehen. Die unverzügliche Klärung des dringenden Verdachts durch Oesophagoskopie oder Kontrastmitteldarstellung wurde fehlerhaft unterlassen, wodurch sich Diagnose und gezielte Therapie letztlich um drei Wochen verzögerten.

Auch im Rahmen weiterer diagnostischer Klärungsversuche sind Fehler aufgetreten. So waren die ungezielten Thoraxdrainagen beiderseits auf Grundlage der Fehldiagnose eines Pneumothorax weder diagnostisch geboten noch therapeutisch effektiv.

Die Unterlassung einer unverzüglichen Ursachenermittlung für das Mediastinal- und Hautemphysem war der primäre und entscheidende Fehler, der die weiteren – ineffektiven – diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen beeinflusste, letztlich die um 23 Tage verzögerte gezielte Therapie der Oesophagusperforation bestimmte.

Dass die übersehene, nicht gezielt behandelte Oesophagusperforation im hier zu beurteilenden Fall todesursächlich war, ließ sich medizinisch-wissenschaftlich nicht mit ausreichender Sicherheit beweisen. Die Schlichtungsstelle erkannte in der Unterlassung der unverzüglich gebotenen diagnostischen Abklärung des Hautemphysems bei klinisch hochgradigem Verdacht auf eine iatrogene Oesophagusperforation einen schweren Behandlungsfehler. Es war völlig unverständlich – so auch die Gutachter – dass die Klärung über eine Oesophagoskopie oder eine Kontrastmittelpassage nicht sofort herbeigeführt wurde.

Aus dem schweren Behandlungsfehler ergibt sich eine Beweislasterleichterung für die Patientenseite. Bei rechtzeitiger Diagnose der Oesophagusperforation wäre die Überlebenschance erheblich größer gewesen. Die schlechteren Überlebenschancen bei verzögerter Diagnostik und Therapie einer Oesophagusperforation sind bekannt. Die hier über einen Zeitraum von drei Wochen unterlassene gezielte Behandlung der Oesophagusperforation war geeignet, ihren tödlichen Ausgang herbeizuführen. Dies reichte aus, den Tod des Patienten auf dem Weg der Beweislastumkehr als Folge des Behandlungsfehlers anzusehen.

Die Schlichtungsstelle hielt in beiden Fällen Schadenersatzansprüche für begründet und empfahl jeweils eine außergerichtliche Regulierung.

Autoren:

KL

Prof. Dr. med. K. Lucke

Ärztliche Mitglieder der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover

HV

Prof. Dr. med. Heinrich Vinz

Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover