Inguinal Pain Syndrome after Repeated Inguinal Hernia Operations and Operative Revisions-Renewed Revision of Inguinal Region without Medical Indication
Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 06/2008
Kasuistik
Einem Mann war im Alter von 25 Jahren eine rechtsseitige direkte Leistenhernie nach Shouldice operiert worden. Es entwickelten sich ein Bruchrezidiv und ein postoperatives inguinales Schmerzsyndrom. Dies hatte zunächst vier weitere Operationen zur Folge.
- Nach eineinhalb Jahren Operation des Bruchrezidivs nach Shouldice und Resektion des N. ilioinguinalis.
- Zehn Monate danach Operation eines erneuten Bruchrezidivs, wiederum nach Shouldice.
- Nach weiteren eineinhalb Jahren laparoskopische Revision der Leistenregion wegen inguinalen Schmerzsyndroms, Ausschluss eines Hernienrezidivs, Entfernung von Narbengewebe.
- Eineinhalb Jahre später offene Revision der Leistenregion, Resektion von Narbengewebe und eines nicht definierten Nervenstranges.
Der Patient litt seit der ersten Operation an einem postoperativen inguinalen Schmerzsyndrom. Es bestand offensichtlich ein hoher Leidensdruck mit reichlichem Gebrauch von Schmerzmedikamenten unterschiedlicher Art. Die vier nachfolgenden Operationen hatten neben der Versorgung des Bruchrezidivs stets auch die operative Behandlung des Schmerzsyndroms als Indikationsstellung im Blickfeld. Nachdem auch die vierte Revisionsoperation keine Besserung erbrachte, überwies der Hausarzt seinen Patienten nach weiteren 15 Monaten wiederum an einen bisher nicht an der Behandlung beteiligten klinisch tätigen Chirurgen. Dieser schloss zunächst sonographisch ein erneutes Bruchrezidiv aus. Nachdem eine Infiltrationsanästhesie der Leistenregion vorübergehend Besserung brachte, stellte er die Diagnose: „Nervus ilioinguinalis-Syndrom“ und führte wiederum eine operative Revision der Leistenregion aus. Weder der N. ilio-inguinalis noch ein anderer Nerv ließen sich bei der Operation identifizieren. Die Ursache der Beschwerden deutete der Operateur als venöse Abflussstörung infolge der Vernarbung durch die vorangegangenen Operationen.
Auch nach dieser fünften Revisionsoperation blieb die Schmerzsymptomatik auf Dauer unverändert, zusätzlich trat eine vollständige Atrophie des rechten Hodens ein. Der Patient führte Beschwerde über diese letzte Operation, die bezüglich der Schmerzsymptomatik erfolglos geblieben war und darüber hinaus die Hodenatrophie zur Folge hatte.
Stellungnahme des behandelnden Arztes
Der in Anspruch genommene Arzt nahm zum Behandlungsvorgang wie folgt Stellung. Die Indikation sei in der Annahme eines Nervus-ilioinguinalis-Syndroms durchgeführt worden. Aufgrund des Operationsbefundes sei von einer venösen Abflussstörung auszugehen. Der rechte Hoden sei postoperativ unauffällig gewesen.
… und des Gutachters
In dem von der Schlichtungsstelle angeforderten Gutachten wird der Behandlungsverlauf anhand des Krankenblattes summarisch dargestellt. Die fünf Berichte der vorangegangenen Operationen lagen dem Krankenblatt nicht bei, so dass der Gutachter zunächst ohne genaue Kenntnis der bei diesen Eingriffen durchgeführten Maßnahmen entschied. Die fünf Operationsberichte wurden dem Gutachter nach Beschaffung durch die Schlichtungsstelle nachträglich vorgelegt. Nach Kenntnisnahme dieser Berichte entschied der Gutachter abschließend ohne Revision seiner vorab getroffenen Beurteilung folgendermaßen:
Der fünfte Revisionseingriff sei „nach sorgfältiger Anamneseerhebung und Analyse des Schmerzcharakters“ indiziert gewesen. Die Operation sei dem Befund angemessen ausgeführt worden. Die auf dem Boden einer arteriellen Durchblutungsstörung eingetretene Hodenatrophie sei als eingriffsimmanente, unverschuldete Komplikation zu beurteilen. Vermeidbare Behandlungsfehler seien nicht festzustellen.
Die Schlichtungsstelle konnte sich nach eigener Prüfung der Behandlungsunterlagen und des weiteren Schriftverkehrs der Argumentation des Gutachters, soweit diese die Begründung zum Eingriff betraf, nicht anschließen.
Dokumentationsmängel und –lücken
Das Krankenblatt des Patienten enthielt keine Anamnese, keinen Aufnahmebefund, insbesondere keine Darstellung des Lokalbefundes, keine Arztberichte oder Operationsberichte über die vorangegangenen fünf Operationen, keinen neurologischen Befund. Die Feststellung des Gutachters, die Indikation sei nach sorgfältiger Anamneseerhebung und Analyse des Schmerzcharakters gestellt worden, fand in der Behandlungsdokumentation keine Entsprechung.
Der Operateur war über die vorangegangenen Operationen offensichtlich nicht informiert, sonst wäre ihm nicht entgangen, dass der N. ilioinguinalis bereits bei der ersten Revisionsoperation und später noch ein weiterer Nerv reseziert worden waren. Dass hier ein so genanntes verselbständigtes Schmerzsyndrom im Versorgungsbereich des N. ilioinguinalis vorgelegen haben könnte, ist zwar möglich, wäre aber nach bereits erfolgter Resektion dieses Nerven keiner chirurgischen Behandlung mehr zugänglich gewesen.
Die Schlichtungsstelle entschied entgegen der Aussage des Gutachtens: Ein neurologischer Untersuchungsbefund war weder aktuell noch in den vergangenen Jahren erhoben worden. Nach bereits vier vorangegangenen Revisionsoperationen, hätte vor der Durchführung weiterer, insbesondere operativer Maßnahmen, zwingend eine neurologisch-psychologische Untersuchung zur Abklärung der Schmerzursache erfolgen müssen. Dies wurde fehlerhaft nicht veranlasst. Es war mit ausreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass eine neurologische Untersuchung und die Kenntnis der vorherigen operativen Maßnahmen die Kontraindikation zu einer erneuten operativen Revision ergeben hätte. Es lag ein seit sieben Jahren bestehendes inguinales Schmerzsyndrom mit vier vergeblichen operativen Revisionen einschließlich Nervenresektionen vor. Hier handelte es sich ohne Zweifel ein so genanntes verselbständigtes Schmerzsyndrom das im vorliegenden Fall keine Operationsindikation darstellte.
Berechtigte Ansprüche des Patienten
Vor dem Hintergrund der nicht indizierten Operation ergaben sich Schadenersatzansprüche aus der Operation selbst, der postoperativen Schmerzsymptomatik infolge der Hodenischämie und dem Verlust des Hodens. Das fortbestehende Schmerzsyndrom war nicht Folge der Operation. Die Schlichtungsstelle empfahl eine außergerichtliche Regulierung.
Zur Gutachtertätigkeit in Schlichtungsverfahren
Dieser Fall gibt Anlass, sich einmal grundsätzlich zur Gutachtertätigkeit zu äußern. Die ärztlichen Mitglieder der Schlichtungsstelle besitzen Gutachterqualifikation. Sie waren vor ihrer Berufung in die Schlichtungsstelle als externe Gutachter für die Schlichtungsstelle tätig. In ca. 15 Prozent aller Fälle hat sich die Schlichtungsstelle den Entscheidungen des externen Gutachters teilweise, oder – eher seltener – durchgehend nicht angeschlossen. Maßgeblich dafür waren medizinische Plausibilitätsgründe und/oder juristische Erwägungen im Zusammenhang mit der Beweislastverteilung zwischen den Parteien. In diesen Fällen trifft die Schlichtungsstelle eine teilweise oder vollständig anderslautende Entscheidung, entweder durch Diskussion innerhalb der Schlichtungsstelle oder durch Einholung eines externen Zweitgutachtens.
Im hier dargestellten Fall war dem Gutachter der Vorwurf zu machen, dass er seine Entscheidungen ohne Kenntnis der Vorgeschichte getroffen und diese nach Kenntnis der vorangegangenen Maßnahmen nicht entsprechend revidiert hat. Der Gutachter hätte die aus der Vorgeschichte stammenden relevanten Befunde über die Schlichtungsstelle nachfordern müssen.
In der Schlichtungsstelle werden zwar die Krankenunterlagen vor Versendung des Gutachtenauftrages auf Vollständigkeit überprüft. Dies schließt jedoch nicht aus, dass der Gutachter erst bei seiner Bearbeitung auf Lücken stößt, die er vor seiner Entscheidung schließen muss. Dies betrifft insbesondere Behandlungsunterlagen und Befunde aus vorangegangenen Behandlungen an anderer Stelle. Im hier dargestellten Falle waren die fünf Operationsberichte für die Entscheidungsfindung unverzichtbar.
Das primär erstattete Gutachten war daher für die Bewertung der Haftungsfrage wertlos.
Der Ergänzung des Gutachtens konnte sich die Schlichtungsstelle aus medizinischen und juristischen Gründen nicht anschließen. Es lag ein Befunderhebungsmangel vor, der kausal für einen nicht indizierten Eingriff mit Folgeschaden geworden war.