Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 2/2011
Kasuistik
Bei einem sechs Wochen alten weiblichen Säugling hatte die Kinderärztin einen einseitigen Leistenbruch mit Verdacht auf ausgetretenes Ovar festgestellt und das Kind sofort einer größeren chirurgischen Klinik überwiesen. Der Leistenbruch war klinisch und sonographisch durch die Klinik bestätigt worden. Der Bruchsackinhalt war irreponibel. Inkarzerationszeichen bestanden nicht. Acht Tage später war die Operation – wie durch die Klinik geplant – vorgenommen worden. Es fand sich ein indirekter Leistenbruch mit einem Bruchsackinhalt, den man für das Ovar hielt. Der Bruchsackinhalt wurde reponiert, anschließend Bruchsack und Bruchpforte versorgt. Sechs Tage nach dem Eingriff erfolgte wegen einer Schwellung im Operationsgebiet eine Wiedervorstellung des Kindes in der Klinik. Klinisch und sonographisch wurde ein Leistenbruchrezidiv mit Verdacht eines erneuten Ovaraustritts diagnostiziert. Da man keine Inkarzerationszeichen fand, wurde der Termin für die notwendige Rezidivoperation zu einem weiteren vier Tage später gelegenen Zeitpunkt vereinbart. Bei der dann vorgenommenen Operation lag kein Rezidiv vor, sondern ein direkter Leistenbruch. Im Bruchsack fand sich hämorrhagisch infarziertes Gewebe, das die Chirurgen für Reste des Ovars hielten und resezierten.
Im weiteren unkomplizierten Verlauf wurde noch eine abdominelle Sonographie durchgeführt, bei der – für die Operateure überraschend – zwei normal konfigurierte und lokalisierte Ovarien gesehen wurden. Die Histologie des bei der Zweitoperation entnommenen Materials hatte wegen der Infarzierung keine genaue Gewebsdifferenzierung erlaubt, sondern lediglich den Verdacht auf eine Fremdkörperreaktion ergeben.
Die Eltern des Säuglings werfen den Ärzten der in Anspruch genommenen Klinik vor, die beiden Operationen fehlerhaft zu spät vorgenommen zu haben. Insbesondere wäre es durch die Verzögerung der Zweitoperation zum Verlust des „Ovars“ gekommen. Vermutet wird auch eine nicht fachgerecht vorgenommene Erstoperation, die deshalb einen zweiten Eingriff erforderlich gemacht habe. Wartezeiten und Zweiteingriff wären für Kind und Eltern sehr belastend gewesen.
Die Chirurgen der Klinik wiesen den Vorwurf fehlerhaften Vorgehens zurück. Da Inkarzerationen klinisch und sonographisch nicht vorgelegen hätten, wäre auch bei Irreponibilität des „Ovars“ keine Indikation zu einem früheren Operationstermin gesehen worden. Die Eingriffe seien elektiv acht Tage beziehungsweise vier Tage nach der Indikationsstellung fachgerecht durchgeführt worden. Bei dem Zweiteingriff handele es sich nicht um ein Rezidiv sondern um einen zweiten (direkten) Leistenbruch.
Gutachten
Der von der Schlichtungsstelle beauftragte kinderchirurgische Gutachter stellte fest, dass es sich bei einem irreponiblen Leistenbruch um einen symptomatischen Bruch handelt. Ein solcher müsse frühzeitig elektiv in einem Zeitrahmen von 24 bis 48 Stunden operativ behandelt werden. Die zeitliche Verzögerung der bei dem Säugling durchgeführten Operationen sei fehlerhaft gewesen. Ein Gesundheitsschaden für das kleine Mädchen sei jedoch nicht entstanden, da es sich bei dem im Rahmen der Zweitoperation resezierten Gewebe nicht um das Ovar des Kindes gehandelt habe. Welcher Art das bei der Operation entfernte Gewebe gewesen sei, wäre nicht mehr zu klären. Für eine fehlerhafte Durchführung der Operationen ergäben sich keine Hinweise.
Entscheidung der Schlichtungsstelle
Die Schlichtungsstelle konnte sich der Einschätzung des Gutachters nur teilweise anschließen und gelangte bezüglich der Haftungsfrage zu einer anderen Bewertung des Sachverhalts.
Der beim weiblichen Säugling mit Leistenbruch relativ häufige Ovaraustritt ist oft irreponibel. Meist liegt ein Gleitbruch vor, der die Taxis erschwert. Auch um einer Inkarzeration mit der Gefahr des Organverlustes vorzubeugen, ist es kinderchirurgischer Standard, in einer solchen Situation frühzeitig elektiv innerhalb von 24 bis 48 Stunden zu operieren, wenn nicht schwerwiegende Gründe gegen eine Operation beziehungsweise Narkose vorliegen.
Im konkreten Fall ist die erforderliche Operation zweimal mit vermeidbar fehlerhafter Verzögerung vorgenommen worden. Hier folgte die Schlichtungsstelle dem Gutachter.
Bei der technischen Durchführung der operativen Eingriffe waren keine Fehler zu erkennen. Dass beim zweiten Eingriff kein Rezidiv gefunden wurde, sondern ein direkter Bruch, ist sicher ungewöhnlich, aber nicht auszuschließen.
Im Gegensatz zum Gutachter sah die Schlichtungsstelle jedoch in der zweimalig fehlerhaften Verzögerung der Operation die Ursache für einen Gesundheitsschaden, der mit einer insgesamt um acht Tage verlängerten Behandlungsdauer zu qualifizieren war. In diesem Zeitraum lag eine vermeidbare körperliche Beeinträchtigung des Kindes vor.
Die Schlichtungsstelle hielt Schadenersatzansprüche für begründet und empfahl eine außergerichtliche Regulierung.