Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Jochbeinimpressionsfraktur, Fehlbeurteilung von Röntgenaufnahmen

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 10/2001

Einleitung
Bei Krafteinwirkungen durch Schlag oder Sturz auf den seitlichen Gesichtsschädel kann es zur sogenannten Jochbeinimpressionsfraktur kommen. Mit ca. 78 Prozent stellt sie die häufigste laterale Mittelgesichtsfraktur dar. Die Frakturlinie verläuft häufig über die faziale Kieferhöhlenwand durch das Foramen infraorbitale. Eine Kompression des Nervus infraorbitalis und damit ein Sensibilitätsausfall im Bereich der vorderen Wange ist das typische Leitsymptom. Aufgrund der schnell einsetzenden und teilweise erheblichen Weichteilschwellungen werden das klassische klinische Zeichen der Abflachung der Jochbeinprominenz und die damit verbundene Gesichtsasymmetrie, zunächst verschleiert. Auch die obligate Stufe am knöchernen Infraorbitalrand kann schwer zu tasten sein. Eine Mundöffnungsbehinderung ist nicht obligatorisch. Die klinische Diagnostik muß durch eine geeignete Röntgendiagnostik ergänzt werden. Die beste Übersicht über die Knochenstrukturen des Mittelgesichtes verschafft die Nasennebenhöhlenaufnahme. Durch die Kippung des Schädels verschwindet das Felsenbein aus dem Projektionsfeld des Kieferhöhlenbodens und die Crista zygomatico alveolaris wird zur Beurteilung deutlich hervorgehoben1.

Kasuistiken

Fall 1
Die 34-jährige Patientin erlitt am 6. Juni 1997 einen Arbeitsunfall. Sie stürzte während ihrer Berufsausübung als Jugendpflegerin mit einem Kinderroller. Neben Verletzungen am Schlüsselbein hatte sie ein Schädelhirntrauma mit retrograder Amnesie sowie Verletzungen im Mittelgesichtsbereich links erlitten. Unter der Diagnose: Monokelhämatom links, Schürf- und Platzwunde linker lateraler Augenwinkel, Klavikulafraktur links und multiple Prellungen wurde zunächst konservativ behandelt. Die Diagnosen stützten sich auf konventionelle Schädelaufnahmen in zwei Ebenen und ein CT des Hirnschädels, die mit „kein Anhalt für Frakturen“ befundet worden waren. Die Patientin hatte nach der Entlassung weiterhin Sensibilitätsstörungen im Wangenbereich links. Nach der Konsultation von mehreren Ärzten veranlaßte im Dezember 1997 ihre Zahnärztin eine nochmalige Untersuchung bei einem Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurgen, einem Augenarzt und einem Neurologen. Schließlich wurde eine Jochbeinimpressionsfraktur verifiziert, die am 09.09.1998 in endotrachealer Intubationsnarkose durch operative Re-Osteotomie mit Reposition und Fixation des in Fehlstellung verheilten Jochbeins behandelt wurde.

Der Gutachter und die Schlichtungsstelle waren der Auffassung, daß der Jochbeinbruch direkt nach der Verletzung im Rahmen der Erstbehandlung hätte erkannt werden müssen. Typische Symptome wie Sensibilitätsausfall und Stufenbildung am unteren Orbitarand lagen vor. Auf der im posterior anterioren Strahlengang gemachten Röntgenaufnahme war die Fraktur schwer erkennbar. Es hätte eine Vorstellung beim Hals-Nasen-Ohrenarzt oder Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen erfolgen müssen, um einen Jochbeinbruch sicher auszuschließen. Insbesondere auch deshalb, weil die Berufsgenossenschaften ausdrücklich fordern, daß bei Verletzungen des Gesichtsschädels ein Arzt dieser Kopfdisziplinen konsiliarisch hinzuzuziehen ist.

Die Schlichtungsstelle hat dem Chefarzt der in Anspruch genommenen Chirurgischen Klinik vorgehalten, daß er die Verunfallte auf den Nervenausfall des 2. Trigeminusastes links hätte untersuchen müssen; darüber hinaus hätte das Schädel-CT das Mittelgesicht beinhalten müssen. Aufgrund der unzureichenden Diagnostik war ein wesentlich aufwendigerer Eingriff erforderlich. Die Mißempfindungen mit verminderter Sensibilität in der Wange links wären nach operativer Sofortintervention prognositisch weitaus günstiger zu beurteilen. Sie stellen eine Behinderung bei den Verrichtungen des täglichen Lebens dar. Es ist davon auszugehen, daß die Sensibilitätsminderung als Dauerschaden anzusehen ist. Damit sind Schadenersatzansprüche begründet.

Fall 2
Die zum Unfallzeitpunkt 32-jährige Patientin war, während sie ihr Fahrrad auf dem Bürgersteig schob, von einem anderen Radfahrer angefahren worden und verspürte bei dem daraufhin erfolgenden Sturz einen Schlag auf die rechte Gesichtshälfte. Ob dies von einem der beteiligten Fahrräder oder dem Kopf des Unfallverursachers ausgelöst wurde, könne sie nicht sagen. Die Patientin berichtet von einem sofort aufgetretenen starken Schmerz sowie einem Taubheitsgefühl, das sich über die rechte Schläfe, die Wange bis zur Oberlippe erstreckte. Darüber hinaus sei die Mundöffnung schmerzhaft eingeschränkt gewesen. Die in der Notfallaufnahme des erstversorgenden Krankenhauses angefertigten Röntgenaufnahmen des Schädels in zwei Ebenen ergaben nach Angabe des diensthabenden Arztes keinen pathologischen Befund, d.h. Frakturzeichen seien mit Sicherheit auszuschließen. Da die klinische Symptomatik nach drei Wochen nicht abgeklungen war, begab sich die Patientin in die Behandlung anderer Ärzte. Diese fanden eine Jochbeinfraktur mit eindeutiger Einknickung der Crista zygomatico alveolaris.

Die Erstdiagnose lautete: Schädelprellung rechts mit Nervus Trigeminus-Irritation. Als Behandlungsvorschlag wurde angegeben: Beratung, Kühlung der rechten Gesichtshälfte, Befundkontrolle. Bei Persistenz der Taubheitsgefühle Vorstellung beim Neurologen empfohlen. Die behandelnde Hausärztin überwies die Patientin am 6. posttraumatischen Tag zur konsiliarischen Beratung in eine neurologische Fachpraxis. Daraufhin wurde die Überweisung zur Röntgenuntersuchung in eine Fachpraxis für Radiologie vorgenommen. Es erfolgten Aufnahmen der Nasennebenhöhlen, der Orbitae, sowie eine Aufnahme nach Clementschitsch. Die Diagnose lautete nun: Alte Fraktur des rechten Oberkiefers seitlich im Bereich der Seitenwand der Kieferhöhle, am rechten Jochbogen und diskret auch am Orbitaboden rechts mit bereits bestehender Kallusbildung. Die neurologische Untersuchung der Patientin ergab eine Hypästhesie, die das Versorgungsgebiet des zweiten Trigeminusastes (Nervus infraorbitalis) rechts betraf. Eine spezifische Therapie wurde nicht vorgeschlagen.

Erst fünf Wochen nach dem Unfall erfolgte die Vorstellung in einer Mund-Kiefer-Gesichtschirurgischen Krankenhausabteilung. Außer einer noch mäßigen Hypästhesie im Ausbreitungsgebiet des Nervus infraorbitalis der rechten Seite waren keinerlei funktionelle Beeinträchtigungen feststellbar. Die Gesichtsasymmetrie war erkennbar. Da nach fünf Wochen das Jochbein klinisch und röntgenologisch knöchern fest durchbaut und die Bruchheilung in der leichten Fehlstellung bereits abgeschlossen war, wurde auf eine Re-Osteotomie mit Reposition des Jochbeins verzichtet. Begründet wurde dieser Verzicht mit den in typischer Weise kompliziert verlaufenden Frakturlinien durch die Sutura zygomatico frontalis entlang des lateralen Orbitarandes abwärts durch den lateralen und vorderen Orbitaboden zum Infraorbitalrand, über die faziale Kieferhöhlenwand und durch das Foramen infraorbitale zur Crista zygomatico alveolaris über die dorso laterale Kieferhöhlenwand zurück zur unteren Fissura orbitalis. Für diesen Eingriff müssen extraorale Schnitte im Bereich der lateralen Augenbraue sowie infraorbital gelegt werden. Selbst wenn die chirurgische Dekompression des Nervus infraorbitalis komplikationsfrei vonstatten gehen sollte, sind die prognostischen Einschätzungen für die Rückbildung der Sensibilitätsstörung als eher einzuschätzen.

Der mit der Begutachtung beauftragte Unfallchirurg kommt zu dem Ergebnis, daß die Jochbeinfraktur unter den gegebenen Umständen für den untersuchenden Arzt erkennbar war. Sowohl die von der Patientin gegebenen Hinweise zum Unfallhergang, als auch die vorhandene Sensibilitätsstörung waren ausreichende Hinweise auf die Verdachtsdiagnose einer lateralen Mittelgesichtsfraktur.

Eine Ausschlußdiagnostik einer Mittelgesichtsfraktur hätte durch einfache Röntgendiagnostik, wie sie an jedem Krankenhaus möglich ist, erfolgen können. Der Gutachter hält weiter fest, daß aus der rechtzeitigen Erkennung der lateralen Mittelgesichtsfraktur die therapeutische Folgerung zu ziehen gewesen wäre, eine Wiederherstellung der Gesichtskontur und die Beseitigung funktioneller Störungen anzustreben. Der günstigste Behandlungstermin ist entweder die Zeit unmittelbar nach dem Unfallereignis oder drei bis fünf Tage später, nach Rückbildung der Weichteilschwellung. Ausgehend davon, daß bei der Patientin keine Sehstörungen verblieben sind (durch mehrfache ärztliche Befunde dokumentiert) und andere funktionelle Störungen nicht vorhanden waren, ist die Nichterkennung der lateralen Mittelgesichtsfraktur diesbezüglich ohne Folgen geblieben.

Die Schlichtungsstelle hat sich der Beurteilung durch den Gutachter angeschlossen und festgestellt, daß in dem vorliegenden Fall fehlerhaft gehandelt wurde. Der Erstuntersucher hätte aufgrund der deutlichen klinischen Symptomatik der Sensibilitätsstörung im Bereich der rechten Wange geeignete Röntgenaufnahmen entweder in seinem eigenen Haus selbst fertigen lassen oder aber eine umgehende Überweisung in eine nahegelegene Fachabteilung (Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie oder Hals-Nasen-Ohrenklinik) veranlassen müssen. Da dieses nicht geschehen ist, kam es zu einer knöchernen Konsolidierung in Fehlstellung. Durch die nicht erfolgte Dekompression des Nervus infraorbitalis ist die Prognose für die vollständige Wiederkehr der Sensibilität ungünstig.

Diese Einschätzung wurde in dem hier beschriebenen Fall bestätigt, denn über zwei Jahre nach dem Trauma klagt die Verunfallte weiter über Sensibilitätsausfälle im Versorgungsgebiet des Nervus infraorbitalis. Darüber hinaus bestehen jetzt Schmerzen neuralgiformer Art. Außerdem wird die Gesichtsasymmetrie weiter beklagt. Die Schlichtungsstelle hielt Schadenersatzansprüche für begründet und empfahl der Versicherung, die Frage einer außergerichtlichen Regulierung zu prüfen.

Fall 3
Dieser Fall zeigt eindrucksvoll, welche dramatischen Auswirkungen eine nicht erkannte Jochbeinimpressionfraktur noch Jahre nach dem Unfallereignis mit sich bringen kann. Schadenersatzansprüche wurden allerdings in dem zu schildernden Fall nicht wegen der unerkannten Jochbeinfraktur gestellt, sondern wegen der neurochirurgischen Eingriffe, die der Schmerzbehandlung als Folge des Jochbeinbruches dienten.

Aufgrund einer Jochbeinfraktur, die sich die damals 50-jährige Patientin nach einem Sturz am 13. März1988 zugezogen hatte, war es zu anhaltenden neuralgiformen Beschwerden auf der rechten Gesichtsseite im Versorgungsgebiet des Nervus infraorbitalis gekommen. Am 28. Februar 1989 wurde in einer neurochirurgischen Universitätsklinik eine sogenannte Hochfrequenzkoagulation des Ganglion Gasseri nach Sweet vorgenommen. Wegen anatomischer Variabilität des Foramen rotundum erwies sich die Punktion des Ganglion Gasseri als schwierig. Es waren deshalb mehrere Punktionsversuche mit der Thermokoagulationsnadel vorzunehmen.

Das von der Schlichtungsstelle in Auftrag gegebene Gutachten einer anderen Neurochirurgischen Universitätsklinik kommt zu dem Ergebnis, daß es aufgrund der Thermokoagulation zu einer Teilschädigung des dritten Trigeminusastes gekommen sei. Die Schmerzen im zweiten Trigeminusast blieben unbeeinflußt. Im Rahmen der zusätzlichen Teilschädigung des dritten Trigeminusastes sei es zu einer Ausdehnung der schmerzhaften Mißempfindungen auch auf das Ausbreitungsgebiet des dritten Trigeminusastes im Sinne eines symptomatischen Gesichtsschmerzes gekommen. Die Gutachter kommen zu dem Ergebnis, daß bei dem beanstandeten Vorgehen kein Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Kunst vorliege. Eine Mitschädigung des dritten Trigeminusastes müsse bei geplanter Ausschaltung des zweiten Astes nicht als seltene Komplikation gewertet werden, da sie eher häufig als selten eintritt. Eine Zunahme der Schmerzen nach einer Thermokoagulation zur Behandlung neuralgiformer Beschwerden nach Nervenverletzungen wird in der Literatur in bis zu 58 Prozent der Fälle angegeben. Andere Behandlungsverfahren stünden nach der langen nach dem Unfall verstrichenen Zeit nicht mehr zur Verfügung.

Damit waren Ansprüche, die sich auf eine fehlerhafte Durchführung des Eingriffes gestützt hatten, abzuweisen. Schadenersatzansprüche hielt die Schlichtungsstelle nicht für begründet und sah keine Möglichkeit, der Versicherung einen außergerichtlichen Regulierungsvorschlag zu unterbreiten. Die unbehandelte Jochbeinfraktur stand nicht zur Diskussion.

In den Unterlagen der Schlichtungsstelle finden sich weitere Fälle übersehener lateraler Mittelgesichtsfrakturen. Wie eingangs bereits erwähnt, ist es außerordentlich wichtig, auf das Leitsymptom der Sensibilitätsstörung, der meist infraorbital ertastbaren Stufe, die Schmerzhaftigkeit bei intraoraler Druckausübung auf die Crista zygomatico alveolaris mit dem Zeigefinger und die fakultativ auftretenden Sehstörungen (Doppelbilder) zu achten. Die Verdachtsdiagnose ist durch eine Nasennebenhöhlenaufnahme (gekippter Schädel!) sicherzustellen. Die routinemäßig häufig veranlaßte Schädelaufnahme in zwei Ebenen ist meist unzureichend.

1 Übrigens war es der 1804 in Hannover geborene Chirurg Louis Stromeyer, der die Aufrichtung des Jochbeines bzw. Jochbogens mit einem von ihm entwickelten scharfen Haken erstmals 1844 angegeben hat.

Autoren:

FS

Prof. Dr. Dr. med. F. Schmid

Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover