Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Kompartmentsyndrom mit Ausgang in eine Volkmann’sche Kontraktur nach suprakondylärer Oberarmfraktur

Compartment Syndrome Resulting in Volkmann’s Contracture after Supracondylar Upper Arm Fracture

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 10/2002

Kasuistik

Ein zum Unfallzeitpunkt fünfjähriges Mädchen erlitt durch einen Sturz eine drittgradig dislozierte suprakondyläre Oberarmfraktur. Die Behandlung erfolgte in der Chirurgischen Abteilung eines Krankenhauses der Regelversorgung. Nach Klinikaufnahme wurde zunächst ein geschlossener, jedoch nicht erfolgreicher Repositionsversuch durchgeführt.

Daraufhin wurde in gleicher Narkose die Fraktur offen reponiert und mit zwei gekreuzten Kirschnerdrähten stabilisiert. Das Ellenbogengelenk wurde in einem Schlingenverband (sogenannter Collar and Cuff) ruhiggestellt. Postoperativ klagte das Kind anhaltend über Schmerzen, so daß bis zum 3. postoperativen Tag Schmerzmittel verabreicht wurden. Eine Schwellung und bläuliche Verfärbung der Hand sowie eine Unbeweglichkeit der Finger wurden als unmittelbare Unfallfolge gedeutet. Am 4. postoperativen Tag wurde das Kind aus stationärer Behandlung mit diesen fortbestehenden Befunden an der Hand in ambulante Behandlung entlassen.

Dieser Befund, insbesondere die Unbeweglichkeit der Finger, wurde vorerst nicht beachtet. 19 Tage nach dem Unfall erfolgte in der gleichen Einrichtung die Entfernung der Kirschnerdrähte. Jetzt wurde eine Fallhand festgestellt. Eine neurologische Untersuchung ergab den Befund einer ischämischen Neuropathie mit Ausfall aller drei Handnerven. Eine später durchgeführte Arteriographie des Armes wies eine „filiforme Stenose der Arteria brachialis“ in Höhe des Ellenbogengelenkes auf.

Zunächst angeordnete krankengymnastische Übungsbehandlungen blieben erfolglos. Weiterführende neurologische und handchirurgische Untersuchungen ergaben schwerste neuromuskuläre Funktionsstörungen an Unterarm und Hand. Im MRT wurden ausgedehnte Fibrosen der Unterarmmuskulatur nachgewiesen. Fünf Monate nach dem Unfall erfolgte eine Revisionsoperation mit Neurolyse von N. medianus und N. ulnaris. Die Muskelfibrosen wurden bei dieser Operation bestätigt. Nach dem Eingriff besserten sich in geringem Maße die Sensibilitätsausfälle und die Fingerkontrakturen im Sinne einer etwas verbesserten Streckfähigkeit. Es verblieb jedoch insgesamt ein schwerer Defektzustand im Sinne der klassischen Volkmann’schen Kontraktur.

Die Mutter des Kindes bat um Überprüfung der Behandlung in der zuerst behandelnden Klinik durch die Schlichtungsstelle.

Der verantwortliche Arzt der in Anspruch genommenen Klinik nahm zu den von ihm zu vertretenden Behandlungsmaßnahmen Stellung. Die eingetretenen muskulären Defektzustände seien als primäre Verletzungsfolge anzusehen.

Die Schlichtungsstelle forderte ein unfallchirurgisches Hauptgutachten sowie ein neurologisches Zusatzgutachten mit Untersuchung an. Die Gutachter kommen zusammenfassend zu folgenden Wertungen:

  • Die Behandlung der supracondylären Oberarmfraktur erfolgte korrekt.
  • Die Diagnose des sich entwickelnden Kompartmentsyndroms wurde nicht gestellt, die entsprechenden frühzeitig aufgetretenen Warnsymptome wurden nicht beachtet. Das Kompartmentsyndrom nach einer Verletzung im Ellenbogenbereich, insbesondere nach einer supracondylären Humerusfraktur, sei eine ausgesprochene verletzungstypische Komplikation, die jedem chirurgisch tätigen Arzt bekannt sein muß. Die Nichterkennung dieser Komplikation ist als vermeidbarer Fehler zu beurteilen. Bei rechtzeitiger Diagnose hätten unverzüglich eine Fascienspaltung und eine Revision der Arteria brachialis im Verletzungsgebiet erfolgen müssen. Dann wäre wahrscheinlich kein neuromuskulärer Schaden eingetreten.
  • Zur Zeit der Untersuchung, gut 1 Þ Jahre nach dem Unfall, liegt das Vollbild der Volkmann’schen Kontraktur vor (Dokumentation durch Fotos). Neurologisch sei noch eine geringe Besserungstendenz erkennbar. Durch den schweren neuromuskulären und sensiblen Defektzustand schätzen die Gutachter den aktuellen Grad der Behinderung mit 60 – 70 Prozent ein. Die Funktionseinschränkung des Armes bzw. der Hand haben dazu geführt, daß das Kind sich bei vielen Tätigkeiten des täglichen Lebens helfen lassen muß, z.B. beim Zubinden des Hosenbundes, sie kann keine Reißverschlüsse bedienen, Flaschenöffnen, Radfahren und v.a.m.
  • Von einer erheblichen Einschränkung der späteren Berufswahlmöglichkeiten ist auszugehen. Dies müßte durch eine entsprechende Begutachtung vor Schulabschluß im einzelnen überprüft werden.

Im unfallchirurgischen und neurologischen Gutachten wurden alle entscheidungserheblichen Einzelheiten der Behandlung in der in Anspruch genommenen Klinik erörtert und sachlich beurteilt. Die Argumentation der Gutachter ist schlüssig. Die Volkmann’sche Kontraktur ist eine typische Komplikation der suprakondylären Humerusfraktur im Kindesalter. In jedem unfallchirurgischen Lehrbuch wird diese wegen ihrer für die Armfunktion deletären Folgen gefürchtete Komplikation behandelt, insbesondere auch hinsichtlich der Warnsymptome und der zu ergreifenden Sofortmaßnahmen bei drohender Ischämie. Bei jeder dislozierten suprakondylären Humerusfraktur muß mit einer Ischämie im Unterarm-Handbereich gerechnet werden, die bei Persistenz über mehrere Stunden zu irreversiblen neuromuskulären Schäden führen kann. Dies bedeutet schnellstmögliche Frakturreposition und -stabilisierung, exakte Kontrolle des betroffenen Armes: Hautfarbe und -temperatur, Ödem, Sensibilität und Motorik von Hand und Fingern, Schmerzäußerungen(!). Hierzu N. Schwarz in „Kindertraumatologie“ 1998: „Die Volkmann’sche Kontraktur ist aus der Klinik nahezu vollständig verschwunden, weil das Wissen um den Zusammenhang von gestörter Durchblutung und Kontraktur vor allem bei der suprakondylären Humerusfraktur chirurgisches Allgemeingut geworden ist“.

Die Verkennung bzw. verzögerte Behandlung der sich abzeichnenden Ischämie nach suprakondylärer Humerusfraktur ist in jedem Fall als schwerer Sorgfaltsmangel zu werten. Auch im hier zu beurteilenden Fall war die Volkmann’sche Kontraktur eindeutige alleinige Folge einer mangelhaft kontrollierten suprakondylären Oberarmfraktur. Es lagen frühzeitig eindeutige Warnsymptome in Richtung auf ein sich entwickelndes Kompartmentsyndrom vor. Diese Warnsymptome wurden fehlerhaft nicht beachtet, die zwingend notwendige Fascienspaltung wurde dadurch unterlassen. Als Folge dieses Fehlers besteht eine dauerhafte, schwere anatomische und funktionelle Defektsituation an dem betroffenen Arm mit beträchtlicher Einschränkung der späteren Berufswahlmöglichkeiten. Daneben war zusätzlich auf die psychischen Auswirkungen dieser anatomischen bzw. ästhetischen und funktionellen Beeinträchtigungen hinzuweisen, da derart betroffene Kinder in der Regel eine gewisse Ausgrenzung aus ihrer altersentsprechenden Umgebung erfahren.

Die Schlichtungsstelle folgte in allen Punkten den Wertungen der Gutachter und empfahl eine außergerichtliche Regulierung.

Autoren:

HV

Prof. Dr. med. Heinrich Vinz

Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover