Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Kompartmentsyndrom nach Kreuzbandersatz

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 08/2001

Einleitung
Weniger für den niedergelassenen Chirurgen, Unfallchirurgen und Orthopäden als für die in der Klinik tätigen Ärzte dieser Fachgebiete stellt das postoperative bzw. posttraumatische Kompartmentsyndrom eine ernstzunehmende Komplikation und Herausforderung dar. Dem Circolus vitiosus, eines schnell fortschreitenden Ischämiesyndroms, kann nur mit differential-diagnostischer Erfahrung, zielgerichteter Diagnostik und frühzeitigster Therapie erfolgreich begegnet werden.

Kasuistik

Der damals 28jährige Patient hatte sich am 02.02.1999 in der in Anspruch genommenen Klinik einer Kreuzbandersatzoperation am rechten Kniegelenk unterzogen. Schon wenige Stunden nach der Operation wurden erstmals Angaben über Schmerzen im Unterschenkel und Kribbelgefühle dokumentiert. Auch 24 Stunden später wurden gleiche Symptome notiert, der Unterschenkel wurde als prall geschwollen beschrieben. Ein als zu straff angesehener Verband wurde gegen einen elastischen Strumpf ausgetauscht und Hochlagerung der Extremität angeordnet. Am Morgen des zweiten postoperativen Tages folgte gleiche Befundbeschreibung mit zusätzlicher Angabe von Sensibilitätsstörungen. Gegen 13.00 Uhr wurden unerträgliche Schmerzen beschrieben. Der Unterschenkel war jetzt livid verfärbt, die Haut glänzend, die Sensibilität im Vorfuß deutlich herabgesetzt, Dorsalflexion war nicht mehr möglich. Gegen 15.00 Uhr wurde die Diagnose eines Kompartmentsyndroms gestellt und die Verlegung in das benachbarte Unfallkrankenhaus eingeleitet. Bei der Aufnahme dort bestand eine Umfangsdifferenz im Kniegelenk von 5 cm und im oberen Drittel des Unterschenkels eine Umfangsdifferenz von 4 cm. 2 1/2 Stunden nach Aufnahme wurden sämtlichen Fascien des Unterschenkels gespalten. Die Muskulatur war bräunlich verfärbt. In der Folgezeit waren Revisionsoperationen zur Abtragung von Muskelnekrosen und späterer Hautdeckung erforderlich. Erst sechs Wochen später war Entlassung in ambulante Behandlung möglich. In der Folgezeit bestand eingeschränkte Belastbarkeit, der Patient mußte längere Zeit den Rollstuhl benutzen. Es war eine Peronäusschiene erforderlich. Bei Begutachtung 10 Monate später bestand noch deutliche Zeichen eines Peronäusschadens mit Sensibilitätsstörung und Fußheberschwäche, des weiteren Schwellneigung des Unterschenkels sowie Bewegungseinschränkung im oberen Sprunggelenk.

Der Patient monierte unzureichende Reaktion auf die von ihm angegebenen Schmerzen.

Die in Anspruch genommene Klinik wandte ein, daß sich erst 48 Stunden nach der Operation erste eindeutige Hinweise für ein Kompartmentsyndrom ergeben hätten und danach sofortige Verlegung erfolgt sei.

Der von der Schlichtungsstelle eingeschaltete Gutachter führte aus, daß bei dem Patienten schon unmittelbar postoperativ Hinweise für eine gewebekomprimierende Einblutung bestanden hätten. Über zwei Tage sei eine pralle Schwellung des Unterschenkels hingenommen worden. Auch weitere klassische Zeichen eines Kompartmentsyndroms hätten relativ früh bestanden. Es sei ihnen erst nach eindeutiger Lividverfärbung und weiterer Zunahme von Sensibilitätsstörungen nachgegangen worden. Auch nach Diagnosestellung sei eine Verzögerung sachgerechter Maßnahmen über mehrere Stunden anzunehmen. Als Folge von Versäumnissen müßten Zeitverlust, Beeinträchtigungen und Funktionsausfälle angesehen werden.

In Kenntnis des Gutachtens wandte die Anspruch genommene Klinik ein, daß im vorliegenden Fall ein chirurgischer Gutachter die Tätigkeit eines Orthopäden beurteilt habe und begründete damit den Wunsch nach einer erneuter Begutachtung durch einen orthopädischen Sachverständigen. Die im Gutachten angeführten Literaturstellen wären ausschließlich unfallchirurgischen Zeitschriften entnommen. Einige Literaturstellen hätten zum Zeitpunkt der Schädigung überhaupt noch nicht zur Verfügung gestanden. Bei der Beurteilung des Verlaufes und verbliebener Folgen sei nicht berücksichtigt worden, daß bei zeitgerechter Behandlung eines Kompartmentsyndroms erhebliche Schäden verbleiben könnten.

Hierzu stellte die Schlichtungsstelle fest, daß für die Fachgebiete Chirurgie/Unfallchirurgie und Orthopädie, deren Tätigkeitsfeld sich in zahlreichen Bereichen überschneiden, bezüglich der an die Diagnose und Behandlung eines Kompartmentsyndroms zu stellenden Forderungen identische Standards gelten. Beide Fachgebiete bedienen sich der Literatur des anderen Fachgebietes. Ein zu beauftragender orthopädischer Gutachter hätte deshalb das Problem des Kompartmentsyndroms unter gleichen Voraussetzungen wie ein Unfallchirurg zu beurteilen. Die Anforderung eines weiteren Gutachtens würde deshalb nicht weiterführen. Wenn der Gutachter in seiner Literaturübersicht mit insgesamt 15 Quellenangaben, in zwei Fällen Literatur aus der Neuzeit, also dem Schädigungsjahr angeführt habe, so könne dies vernachlässigt werden. Das Kompartmentsyndrom wird in unfallchirurgischer sowie auch in orthopädischer Literatur sowie auf den entsprechenden Fachkongressen seit zwei Jahrzehnten ausreichend häufig und identisch abgehandelt.

Bewertung der Schlichtungsstelle

Die Ausführungen des Gutachters über den Ablauf von Operation bis zur Verlegung und seiner Bewertung waren nach Ansicht der Schlichtungsstelle zutreffend.

Eine schon kurz nach arthroskopischer Operation auftretende massive Schwellung des Unterschenkels mit gleichzeitiger Angabe von starken Schmerzen und der Notwendigkeit häufiger Verordnung von Schmerzmitteln ist ein so ungewöhnliches Geschehen, daß bereits am Nachmittag des Operationstages an eine abklärungsbedürftige Komplikation gedacht werden mußte. Im Gegensatz zu einer frischen Traumatisierung des Unterschenkels, bei der in den ersten Stunden, manchmal sogar Tagen, eine Unterscheidung zwischen den typischen Folgen der Verletzung und einem sich entwickelnden Kompartmentsyndrom schwierig ist, gab es in den ersten 24 Stunden in diesem Falle nur eine Erklärung, nämlich die durch eine in der Wadenregion bestehende Blutansammlung. In der Klinik, in der nach Angabe ihres Leiters, Fachärzte für das orthopädische, für das unfallchirurgische und für das chirurgische Fachgebiet tätig waren, mußte allein die Komplikation einer denkbaren stärkeren Blutung bedacht werden und zu abklärenden Maßnahmen führen. Die äußerst differenzierte Verlaufsbeschreibung durch die Mitarbeiter der in Anspruch genommenen Klinik ließ erkennen, daß der Operateur lediglich kurz nach der Operation und dann erst 48 Stunden später eine persönliche Untersuchung vornahm. Die aktenkundigen Dokumentationen seiner nachgeordneten Ärzte, wie auch die Angaben des Patienten ließen erkennen, daß die Mitarbeiter in der unmittelbaren postoperativen Phase mit der Deutung der gegebenen Symptomatik überfordert waren. Spätestens am Folgetag mußte dann aber bei zu forderndem Sachverstand und der Feststellung eines prall geschwollenen Unterschenkels bei gleichzeitiger Angabe von starken Schmerzen und von Sensibilitätsstörungen an ein Kompartmentsyndrom gedacht, ein verantwortlicher und sachverständiger Facharzt des Leitungsteams beigezogen und eine entsprechende Abklärung eingeleitet werden. Es gab ernsthaft nur eine denkbare Diagnose, nämlich die des Kompartmentsyndroms und an dieses wurde über 48 Stunden bis zum Mittag des 04.02.1999 nicht gedacht. Da die Klinik weiterführender Diagnostik (Druckmessung) und auch operativer Versorgung nicht gewachsen war, hätte spätestens am 03.02.1999 eine Verlegung des Patienten erfolgen müssen. Dem Leiter der in Anspruch genommenen Abteilung war, wie sich dann am 04.02.1999 bei seiner 48 Stunden nach Operation erfolgten Zweitvisite erwiesen hat, ein Kompartmentsyndrom durchaus geläufig. Es ist danach in vertretbarer Zeit zur Verlegung und Revision gekommen.

Nach Ansicht der Schlichtungsstelle hätte der Patient spätestens 24 Stunden nach Arthroskopie und ersten Symptomen eines Kompartmentsyndroms entsprechender Diagnostik und Operation zugeführt werden könne. Auch für diesen Fall konnte nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, daß bleibende Folgen vermeidbar waren. Auch bei zeitgerechter operativer Versorgung eines Kompartmentsyndroms verbleiben häufig Muskelschäden, relativ häufig auch, dann aber meist rückbildungsfähige neurologische Ausfälle. Verlängerung der Behandlungszeit und in einem Teil der Fälle bleibende funktionelle Ausfälle sind zu erwarten.

Insofern erschien es gerechtfertigt, für verzögerte Behandlung, vermehrte Beschwerden und Beeinträchtigungen sowie einen Teil verbliebener Ausfälle einen hälftigen Anteil des Gesamtschadens durch fehlerhaft verzögerte Diagnosestellung anzunehmen und in diesem Umfang Ansprüche als gerechtfertigt anzusehen.

Es ist zusammenfassend festzustellen, daß normabweichende Symptome nach Verletzungen und Operationen an der unteren Gliedmaße immer an das seltene Kompartmentsyndrom denken lassen müssen. Rechtzeitig eingesetzte Diagnostik und Therapie lassen die fatalen Folgen des Ischämiesyndroms deutlich reduzieren.

Autoren:

WDS

Dr. med. W.-D. Schellmann

Facharzt für Unfallchirurgie
Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover