Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Kortisonbehandlung bei nicht erkanntem Diabetes mellitus Typ 2

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 05/2008

Einleitung
Wie in anderen Fachgebieten auch, spielt die Gabe von Kortikosteroiden besonders bei chronisch entzündlichen Erkrankungen (hier in der Neurologie) eine wichtige und unverzichtbare Rolle. Ihre Anwendung unterliegt wegen der bekannten spezifischen Nebenwirkungen bestimmten Regeln, die neben strikter Beachtung von Indikation und Kontraindikation sowie der notwendigen Laborkontrollen auch der Kommunikation und Dokumentation bedürfen. Das folgende Beispiel schildert, wie leicht durch fahrlässige Verletzung dieser Regeln schwere neue Krankheitssyndrome entstehen können.

Kasuistik

Ein zum Zeitpunkt der Behandlung 84-jähriger Patient litt seit zirka zehn Jahren an einem subjektiven „Schwindel“ mit einem zunehmend unsicher werdenden ataktischen Gangbild, das am ehesten auf dem Boden einer langsam progredienten, vorwiegend sensiblen Polyneuropathie mit Verlust der Achillesreflexe beiderseits und Erlöschen der Vibrationsempfindung an den Großzehengrundgelenken zu erklären war. Anamnestisch war eine Bandscheibenoperation L 4/5 zwei Jahre zuvor, ein Bluthochdruck seit 30 Jahren und ein Insult mit leichter, linksseitiger Hemiparese vor vier Jahren mit einem leichten Rezidiv drei Monate zuvor bekannt.

Bei der ersten stationären Diagnostik im Juli 2002 in einer neurologischen Fachklinik ließ sich die Diagnose einer Polyneuropathie zwar sichern, die Ursache trotz umfangreicher Untersuchungen jedoch nicht feststellen. Deshalb wurde im August eine Biopsie vom Nervus suralis und des M. gastrocnemius links durchgeführt. Bei der neuropathologischen Untersuchung fand sich aber nur Muskelmaterial mit Veränderungen, wie sie bei einer neurogenen Schädigung typisch sind, ohne dass aus dem Ergebnis nähere ätiologische Rückschlüsse möglich waren.

Wegen zunehmender Beschwerden mit gamaschenartigem Spannungsgefühl in beiden Beinen, Kribbeln in den Fußsohlen, häufigen Wadenkrämpfen und einer Gehverschlechterung erfolgte im November die erneute Aufnahme in die neurologische Fachklinik, wo sich zwar keine objektive Befundänderung gegenüber den Entlassungsberichten von Juli und August zeigte, jedoch unter der Annahme einer chronisch inflammatorischen axonalen Polyneuropathie (CIAP) ab 8. November 2002 eine Kortisonbehandlung mit 100 mg Urbason¨ täglich erfolgte. Bei der Entlassung am 11. November 2002 war vorgeschlagen worden, diese Dosierung für die Dauer von vier Wochen beizubehalten und die Dosis dann wöchentlich um 15 mg bis zu einer Erhaltungsdosis von 40 mg zu reduzieren.

Vom 17. Dezember 2002 bis 10. Januar 2003 wurde eine stationäre Behandlung in einer medizinischen Klinik unter der Diagnose „Diabetes mellitus unter Kortisontherapie“ erforderlich. An den Tagen vor der Aufnahme lagen die täglichen Harnmengen bei 6 bis 7 l, der Blutzucker war bei Aufnahme bis auf 800 mg/dl erheblich erhöht. Es erfolgte eine Blutzuckereinstellung mit Insulin. Nach Rücksprache mit der neurologischen Klinik wurde die Kortisondosis auf eine Erhaltungsdosis von 40 mg reduziert. Im Bericht der medizinischen Klinik findet sich der Hinweis auf eine Verschlechterung der Paresen, ohne dass deren Ausmaß klinisch-neurologisch nachvollziehbar begründet wird und aus der ex post-Sicht von der entgleisten diabetischen Stoffwechsellage abgrenzen lässt.

Vom 27. Januar bis 8. Februar 2003 erfolgte eine letztmalige stationäre Behandlung in der neurologischen Fachklinik. Die Untersuchung ergab eine deutliche Zunahme der distalen Paresen beider Beine, der elektrophysiologische Befund bestätigte die überwiegend axonale Nervenschädigung ohne Hinweise auf eine floride axonale Schädigung oder eine Myopathie. Die Blutzuckerwerte variierten im Tagesverlauf bis zu Werten von >300 mg/dl. Die Kortisonmedikation endete ausschleichend am 17. Februar 2003. Wegen fieberhafter Temperaturen kam es am 8. Februar 2003 zur Verlegung in eine medizinische Klinik, wo als Ursache des Fiebers eine Pneumokokken-Pneumonie festgestellt wurde. Am 20. Februar 2003 erfolgte die Entlassung bei „gebessertem Zustand“ in die hausärztliche Weiterbehandlung.

Der Vorwurf des Patienten lautete, dass bei ihm durch die Kortisonbehandlung ein „Diabeteskollaps“ verursacht worden sei. Seither wäre er Diabetiker und dadurch in seiner Lebensführung erheblich eingeschränkt. Zusätzlich sei es zu einer Augenkrankheit gekommen. Der Patient vermutete einen durch die Kortisonbehandlung entstandenen Dauerschaden.

Der in Anspruch genommene Chefarzt der neurologischen Klinik führte dazu aus, dass unter der Verdachtsdiagnose einer CIAP die Therapie mit Urbason sinnvoll gewesen sei, wobei es dabei bekanntermaßen zu Blutzuckerentgleisungen und Augenkomplikationen kommen könne. Mit der Gefahr eines bleibenden insulinpflichtigen Diabetes sei nicht zu rechnen gewesen, ebenso wenig mit einem persistierenden Glaukom.

Diabetologisches Gutachten

Bei Durchsicht der Akten habe sich ergeben, dass der zwei Jahre zuvor im Rahmen der ambulanten neurologischen Abklärung der Polyneuropathie abgenommene Blutzuckerlangzeitwert HbA1c im Normbereich lag. Erstmals hätten sich in dem bei der ersten stationären Diagnostik in der neurologischen Fachklinik bestimmten Blutzuckertagesprofil sowohl ein erhöhter Wert morgens nüchtern (137 mg/dl) als auch um 17 Uhr (176 mg/dl) gefunden. Bei einer Kontrolle sechs Tage später hätten sich ähnliche Werte nachweisen lassen, ebenso im August. Der Nüchternblutzuckerwert am 8. November 2002, dem ersten Tag der Gabe von 100 mg Urbason¨, sei mit 116 mg/dl erhöht gewesen. Die Entlassung wäre am 11. Dezember 2002 ohne weitere Blutzuckerkontrollen erfolgt. Eine Bestimmung des HbA1c sei ebenso wenig wie ein oraler Glukosetoleranztest durchgeführt worden.

In der Bewertung kommt das Gutachten zu dem Ergebnis, dass schon im Juli 2002 auf Grund der Blutzuckertagesprofile die Diagnose eines Diabetes Typ 2 hätte gestellt werden müssen. Nach den Kriterien der Deutschen Diabetes-Gesellschaft liege ein Diabetes mellitus vor, wenn der Zuckergehalt im kapillären Vollblut nüchtern über 110 mg/dl betrage (postprandial >200 mg/dl). Um das erstmalige Auftreten eines Diabetes mellitus unter Glukokortikoidtherapie zu erkennen beziehungsweise eine Verschlechterung eines vorbekannten Diabetes rechtzeitig zu diagnostizieren, sei es medizinischer Standard, nach Einleitung der Kortisontherapie ein Blutzuckertagesprofil zu erstellen. Dies sei im vorliegenden Fall offensichtlich versäumt worden.

Bei sorgfältigem Vorgehen hätte ein Diabetes mellitus Typ 2 bereits vor Beginn der Kortisontherapie diagnostiziert werden können. Sofern Kortison nicht in einer Notfallsituation, zum Beispiel bei einem Asthma-Anfall, gegeben werde, seien mit einem Patienten in jedem Falle die wesentlichen Nebenwirkungen einer Kortisontherapie zu besprechen. Dazu gehörten das Auftreten eines Diabetes mellitus beziehungsweise die Verschlechterung der Stoffwechsellage. Der Patient hätte dann selbst entscheiden können, ob er die Nebenwirkungen in Kauf nehme. Bei Kontrolle eines Blutzuckertagesprofils wäre die Verschlechterung der Blutzuckerstoffwechsellage frühzeitig erkannt worden. Damit hätte sich eine Insulintherapie frühzeitiger einleiten lassen.

Als allein fehlerbedingte und damit vermeidbare Folgen sieht der Gutachter neben den zu Therapiebeginn aufgetretenen allgemeinen Beschwerden wie Mundtrockenheit und vermehrtes Wasserlassen die in der Folge beschriebenen Lähmungen und die hierdurch bedingten Behinderungen (Gehen nur mit Stock). Diese wären bei frühzeitigem Einleiten einer Insulintherapie vermeidbar gewesen. Außerdem hätte man hierdurch den Klinikaufenthalt um zirka eine Woche verkürzen können.

Im übrigen ließe sich bei Normalisierung der Blutzuckerwerte nach Absetzen des Kortisons eine Insulintherapie in vielen Fällen wieder beenden. Ob dies auch im vorliegenden Fall möglich gewesen wäre ist nicht sicher, da ein solcher Auslassversuch unterblieben sei. Der Gutachter macht allerdings darauf aufmerksam, dass der Patient nach Absetzen der Kortikoidtherapie „überflüssigerweise“ mit Insulin weiterbehandelt worden sei.

Ob eine Kortisontherapie lediglich zu einer vorübergehenden oder aber doch dauerhaften Verschlechterung der Blutzuckerstoffwechsellage führe, werde in der wissenschaftlichen Literatur kontrovers diskutiert. Sicher sei, dass das Risiko einer bleibenden Schädigung steige, je länger und höher dosiert die Glukokortikoide verabreicht würden. Im vorliegenden Fall werde dieses Risiko als gering angesehen.

Neurologisches Gutachten

Dieses Gutachten moniert mehrere Verstöße gegen ärztliche Regeln. So sei den Ärzten nicht aufgefallen, dass eine Biopsie des Nervus suralis nicht korrekt realisiert worden sei, trotzdem werde in mehreren ärztlichen Berichten das „Ergebnis“ einer Nervus suralis-Biopsie dokumentiert.

Trotz umfangreicher Untersuchungen zur Zuordnung des polyneuropathischen Syndroms wären die Untersuchungen zur Klärung der diabetischen Stoffwechsellage nicht hinreichend gewesen, so dass trotz wiederholt gemessener erhöhter Blutzuckerwerte die Diagnose eines Diabetes mellitus nicht gestellt beziehungsweise dieser nicht durch einen zusätzlichen Glukosetoleranztests nachgewiesen worden sei.

Weiterhin habe aus neurologischer Sicht auch keine zwingende Indikation zur Behandlung des polyneuropathischen Syndroms mit Kortison vorgelegen. Nach den Befunden habe wahrscheinlich keine akute beziehungsweise chronische Polyneuritis oder Immunvaskulitis bestanden, sondern vielmehr eine chronische idiopathische axonale Polyneuropathie, für deren Behandlung mit Kortison sich im Schrifttum keine überzeugenden Hinweise fänden.

Dennoch sei aus gutachterlicher Sicht eine Behandlung unter der Voraussetzung möglich, wenn vor Beginn der Therapie ausdrücklich auf den Charakter eines Heilversuchs und mögliche Nebenwirkungen hingewiesen werde. Dosierung und Dauer der Kortison-Therapie wären unter dieser Voraussetzung angemessen.

Bezüglich der Fehlerfolgen kommt das neurologische Gutachten in Ergänzung zum diabetologischen Gutachten zu dem Ergebnis, dass zusätzlich zu den dort genannten Konsequenzen auch der hoch fieberhafte Infekt und die Pneumonie mit der Notwendigkeit einer mehrtätigen stationären Behandlung auf die fehlerhafte Behandlung zu beziehen seien. Hinzuzurechnen wäre außerdem die mit Einsetzen der Blutzuckerentgleisung Mitte November 2002 bis Ende Februar 2003 eingetretene Minderung der täglichen Kompetenz im privaten Bereich.

Die Schlichtungsstelle folgte der überzeugenden Argumentation beider Gutachter. Eine außergerichtliche Regulierung der Schadenersatzansprüche wurde empfohlen.

Autoren:

GH

Prof. Dr. med. Günter Haferkamp

Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover