Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 05/2003
Kasuistik
Im Oktober 1996 wurde bei der 54jährigen Patientin bei unauffälligem Palpationsbefund mammographisch ein suspekter Verdichtungsherd im oberen äußeren Quadranten der rechten Mamma beschrieben. Nach vorheriger röntgenologischer Lokalisation wurde der Befund in einer gynäkologisch-geburtshilflichen Abteilung entfernt. Die histologische Schnellschnitt-Untersuchung ergab ein sechs Millimeter großes Karzinom, das im Gesunden entfernt war. Daher erfolgte in der gleichen Sitzung von einem separaten Schnitt aus die axilläre Lymphonodektomie. Die 13 entfernten Lymphknoten waren alle tumorfrei. Es ergab sich somit ein Tumorstadium pT1b, pN0 (0/13) G-2, M-0. Aufgrund des positiven RezeptorstatusÕ für Östrogene und Progesteron erfolgte bei der postmenopausalen Patientin die adjuvante Therapie mit Tamoxifen und die obligatorische Radiotherapie der rechten Brust mit einer Gesamtdosis von 50,4 Gy.
Nach Angaben der Patientin hätte sie noch während des stationären Aufenthaltes über Schmerzen am rechten Schulterblatt und auch über eine Bewegungseinschränkung des rechten Armes geklagt. Dies hätte sie auch gegenüber dem Pflegepersonal geäußert, das aber diese Beschwerden als passagere Folgen des operativen Eingriffs gewertet und sie mit dem allmählichen Abklingen der Symptome beruhigt habe. Eine Gesprächsdokumentation ist in den Krankenunterlagen jedoch nicht vorhanden.
Erst anläßlich einer Anschlußheilbehandlung nach erfolgter Radiatio stellte ein Orthopäde die Diagnose „Scapula alata rechts“ und leitete physiotherapeutische Maßnahmen ein. Bei einer weiteren Rehabilitationsmaßnahme im folgenden Jahr (1998) persistierten die Ausfallserscheinungen, die einer iatrogenen Läsion des N. thoracicus longus zugeschrieben wurden. Im Elektromyogramm (EMG) fanden sich Zeichen von Reinnervationspotentialen, die auf eine allmähliche Rückbildung mit günstiger Prognose schließen ließen. Leider hat sich diese Prognose bislang nicht bestätigt.
Der N. thoracicus longus ist einer der Äste des Plexus brachialis (C2-C5) und zieht nach kaudal zur seitlichen Thoraxwand, wo er den M. serratus anterior innerviert. Dieser Muskel inseriert zackenförmig an der ersten bis achten Rippe und zieht dann konvergierend zum medialen Rand der Scapula, wo er in ganzer Länge ansetzt. Bei Ausfall des Muskels kommt es zu dem typischen, flügelartigen Abstehen des Schulterblattes (Scapula alata), zur erschwerten Anteversion des Armes; die Elevation des Armes über die Horizontale ist kaum möglich.
Die Abbildung 1 aus dem Jahr 2001, also mehr als vier Jahre nach dem operativen Eingriff, zeigt das typische Bild einer Scapula alata rechts und deutet auch die Bewegungseinschränkung des rechten Armes an.
Die Patientin führt die nervale Schädigung auf einen Behandlungsfehler zurück und hat sich deshalb an die Schlichtungsstelle gewandt.
Das meint der Gutachter …
Der gynäkologische Gutachter erkennt einen Zusammenhang zwischen der Schädigung des N. thoracicus longus und dem operativen Eingriff an, kann aber keinen Verstoß gegen anerkannte Regeln der Heilkunde feststellen. Einen Behandlungsfehler schließt er somit aus. Er begründet diese Entscheidung mit der Möglichkeit einer anatomischen Variante, bei der der N. thoracicus longus unterhalb der umgebenden Faszie des zu versorgenden Muskels verläuft und daher nicht sichtbar ist. Unter diesem Aspekt sei die Nichtidentifikation oder die Nichtdarstellung des Nervs während der Lymphonodektonie kein fehlerhaftes Vorgehen. Als weitere Schädigungsursachen für den N. thoracicus longus führt der Gutachter operativ bedingte Schwellungen mit nachfolgender Druckschädigung des Nerven oder eine Alteration des Nerven durch verstärkte Narbenbildung an.
… und das die Schlichtungsstelle
Die Schlichtungsstelle hat sich der Argumentation des Gutachters nicht angeschlossen. In einem Standardwerk der operativen Gynäkologie heißt es im Kapitel „Ausräumen der Axilla“ unter anderem: „Bei der Präparation der Axilla auf der medialen und dorsalen Seite werden drei Nerven aufgesucht: Der N. thoracicus longus, der N. thoracodorsalis und die Nn. intercostobrachiales. Während die Durchtrennung dieser Nerven häufig nicht verhindert werden kann, müssen der N. thoracicus longus und der N. thoracodorsalis unbedingt erhalten werden.“
Der sehr kurz gefaßte Operationsbericht erwähnt diese Strukturen gar nicht. Es ist also davon auszugehen, daß der N. thoracicus longus nicht identifiziert und freipräpariert wurde. Diese Feststellung wird auch nicht durch die fast vier Jahre nach dem Eingriff abgegebene Stellungnahme des Operateurs entkräftet: „Da die axilläre Lymphonodektomie bei der Patientin nach dem vorliegenden Operationsbericht in typischer Weise durchgeführt wurde, ist davon auszugehen, daß dies auch hier erfolgt ist“. Diese – dazu noch zeitversetzt – abgegebene allgemeine Formulierung ist nach Ansicht der Schlichtungsstelle kein Beweis für die Darstellung des N. thoracicus longus während der Operation. Selbst mögliche Schwierigkeiten bei der Identifikation des Nerven durch eine atypische intraoperative Situation verpflichten zu einer entsprechenden Dokumentation. Da die Achselregion präoperativ nicht bestrahlt wurde, scheidet auch eine radiogene Nervenschädigung aus. Desgleichen ist auch eine rein „narbig“ bedingte Schädigung extrem unwahrscheinlich, da im postoperativen Verlauf disponierende Faktoren nicht beschrieben wurden (zum Beispiel Hämatome, Serome, Infektionen). Die Schlichtungsstelle mußte nach dem Operationsbericht davon ausgehen, daß während der axillären Lymphonodektomie der Nerv nicht dargestellt wurde und es daher zu einer nicht erkannten Läsion des N. thoracicus longus gekommen ist. Sie hielt Schadensersatzansprüche für begründet und empfahl eine außergerichtliche Regulierung.
Fazit
Auch bei einer Standard-Operation sind die wesentlichen Operationsschritte zu dokumentieren. Dies gilt insbesondere für die Präparation und Identifizierung wesentlicher Strukturen. Von der Normalsituation abweichende Befunde sind ebenfalls zu vermerken (Hämatome, starke Narbenbildung, verstärkte Blutungsneigung). Das Fehlen dieser Dokumentation kann bei Komplikationen zu Beweislastverschiebungen zu Lasten des Operateurs führen.