Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Lipom im Duodenum – Invasive Differenzialdiagnostik ohne ernsthaft in Betracht kommende Differenzialdiagnose?

Lipoma in Duodenum-Invasive Differential Diagnostics Without Serious Consideration of Differential Diagnosis

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 9/2013

Kasuistik

Die 75-jährige multimorbide Patientin (kardiopulmonale Erkrankungen, Hypertonie, Diabetes mellitus, extreme allgemeine Adipositas) war am 18. September von ihrer Hausärztin stationär in eine Klinik für Innere Medizin wegen eines kardiologischen Problems eingewiesen worden. Mitgegeben wurde die Kopie eines Befundberichtes über eine ambulant durchgeführte Ösophago-Gastro-Duodenoskopie (ÖGD), in dem eine prominente Papilla vateri (Mündungsstelle von Gallen- und Bauchspeicheldrüsengang) beschrieben und um Kontrolle des Befundes in der Klinik gebeten wurde.

Am 29. September erfolgte daher eine ÖGD mit einem Seitblickendoskop. Die Papille erwies sich als unauffällig. Neben ihr stellte sich eine kugelige, glatt begrenzte Vorwölbung dar, die am ehesten als Lipom (gutartiges Fettgeschwulst) eingeschätzt wurde. Zum Ausschluss eines Tumors wurde dennoch eine Endosonografie empfohlen.

Am 7. Oktober wurden vor der Endosonografie zunächst eine ÖGD und eine Inspektion des Zwölffingerdarms mit dem Seitblickendoskop durchgeführt. Der bekannte Polyp wurde benachbart der Papilla vateri bestätigt, probatorisch mit der Elektroschlinge gefasst und dabei festgestellt, dass er für eine eventuelle Schlingenabtragung geeignet sei. Bei der anschließenden Endosonographie kam es zu einer Perforation des Duodenums und die Patientin musste notfallmäßig am gleichen Tage operiert werden. Notwendig wurde dabei eine pyloruserhaltende partielle Duodenopankreatektomie mit Cholecystektomie. Im Resektat wurde histologisch ein Lipom der Duodenalschleimhaut nachgewiesen. Bis zum 3. November musste die Patientin auf der Intensivstation verbleiben, unter anderem weil es wegen einer Anastomoseninsuffizienz zu einer Relaparotomie gekommen war und intraabdominelle Abszesse CT-gesteuert drainiert werden mussten. Ab dem 3. November wurde sie auf einer chirurgischen Normalstation weiterbehandelt. Von dort erfolgte die Entlassung am 23. Dezember in eine Reha-Klinik, in der sie einen Monat verblieb. Es schloss sich noch eine zweiwöchige Betreuung in einer Tagesklinik an.

Die Patientin moniert eine fehlerhafte Durchführung der Endosonografie, wodurch es zu der Perforation und dem komplikationsträchtigen Verlauf gekommen sei.

Gutachten

Bei der Gastroskopie am 29. September in der Klinik habe sich ergeben, dass es sich bei dem auswärts vermuteten Papillentumor um ein kleines Lipom im Duodenum gehandelt hat. Aufgrund des bildmäßig gut dokumentierten Befundes gebe es an dieser Diagnose keinen Zweifel. Die Empfehlung, diese Diagnose endosonografisch bestätigen zu wollen, müsse als Überdiagnostik gewertet werden, da bei der multimorbiden, beschwerdefreien Patientin keine Therapie des kleinen submucösen Tumors angezeigt gewesen sei. Es bestehe Einigkeit, dass bereits makroskopisch als Lipom erkennbare Tumore nicht zwingend endosonografisch untersucht werden müssen. Im vorliegenden Fall sei das Lipom klar diagnostiziert und im Bild dokumentiert worden. Im Untersuchungsgang vor der Endosonografie sei im Bild dokumentiert, dass das Lipom mit der Schlinge gefasst wurde. Diese Maßnahme zeige eindeutig, dass der Tumor weniger als einen Zentimeter maß und sich die Schlinge hinter dem Tumor schließen ließ. Die Indikation zur Endosonografie werde nach dieser zweiten Untersuchung noch fraglicher. Trotz der eindeutigen Erkenntnis, dass es möglich sei, den Tumor endoskopisch abzutragen, sei weiter die Indikation zur Endosonografie gesehen und diese durchgeführt worden. Die Indikation zur Endosonografie setze neben einem unklaren endoskopischen Befund voraus, dass sich aus dem zu erwartenden Befund therapeutische Konsequenzen ergeben. Bei der multimorbiden Patientin mit einem eindeutig als Lipom zu klassifizierenden intramuralen Tumor sei es unwahrscheinlich, dass selbst bei einem Endosonografiebefund, der nicht ein Lipom als Diagnose erbracht hätte, sich andere therapeutische Konsequenzen hätten ableiten lassen als im höchsten Falle endoskopische Verlaufskontrollen. Eine Aufklärung über diesen geplanten Eingriff sei in den Klinikunterlagen nicht dokumentiert. Eine Perforation des Duodenums bei der Endosonografie spreche bei gesicherter Indikation und adäquater Aufklärung nicht zwingend für einen Behandlungsfehler. In einem geringen Prozentsatz (0,05 Pro-zent) könne es zu dieser Komplikation auch bei sach- und fachgerechter Untersuchung kommen.

Mit der Komplikation der Perforation sei entsprechend dem geltenden medizinischen Standard umgegangen worden. Alle postoperativ entstandenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen der bereits vor der Perforation multimorbiden und stark adipösen Patientin wären bei Verzicht auf die Endosonografie vermeidbar gewesen.

Zu dem Gutachten wurde ärztlicherseits eingewandt, dass eine relative Indikation bestanden habe. Die Patientin sei unmittelbar nach der Gastroskopie über die weiteren Maßnahmen und ihre Risiken aufgeklärt worden. Auch habe sie bereits mehrere Ösophago-Gastro-Duodenoskopien gehabt.

Entscheidung der Schlichtungsstelle

Bei der Patientin hatten die Endoskopien am 29. September und am 7. Oktober eindeutig ergeben, dass es sich bei dem ambulant erhobenen Befund in der Papillenregion um ein harmloses Fettge-schwulst (Lipom) gehandelt hat. Die Bilddokumentation in den Klinikunterlagen lässt keine vernünftige Differenzialdiagnose zu. Ein derartiger Befund muss nicht durch zusätzliche Diagnostik weiter verifiziert werden. Damit bestand keine Indikation zur Endosonografie.

Bei korrektem Vorgehen wäre die Endosonografie unterblieben und damit wären auch folgende Gesundheitsbeeinträchtigungen und Belastungen vermieden worden:

  • Notfalloperation mit der Notwendigkeit einer pyloruserhaltenden Resektion des Duodenums, des Pankreaskopfes und der Cholecystektomie sowie der Anlage einer biliodigestiven Anastomose (Operation nach Traverso-Longmire),
  • die lange Zeit auf der Intensivstation, die durch eine Zweitoperation wegen Nahtinsuffizienz und CT-gesteuerten Drainage von Abszessen bedingt war,
  • die Weiterbehandlung wegen Wundheilungsproblemen auf der chirurgischen Station vom 3. November bis zum 23. Dezember
    der anschließende Aufenthalt in den Rehabilitationseinrichtungen.

Die Diskussion darüber, ob eine ordnungsgemäße Aufklärung erfolgt war oder nicht, war entbehr-lich. Nicht indizierte Behandlungsmaßnahmen sind stets rechtswidrig, denn der Patient kann nur in eine lege artis indizierte und durchzuführende Behandlung wirksam einwilligen.

Fazit

Diagnostischer Übereifer kann ebenso wie diagnostische Nachlässigkeit zur Haftung führen. Dies gilt besonders für invasive diagnostische Maßnahmen. Die Bejahung der Indikation zu einer risikobehafteten invasiven diagnostischen Maßnahme setzt immer eine differenzierte Güterabwägung zwischen der diagnostischen Aussagefähigkeit, den Aufklärungsbedürfnissen (welche therapeutischen Konsequenzen würden sich eröffnen?) und den besonderen Risiken für den Patienten voraus (BGH VersR 1995, 1055).

Autoren:

JN

Dr. Johann Neu, Rechtsanwalt

ehemaliger Geschäftsführer der Schlichtungsstelle
für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammern
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover