Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Maldescensus testis – fehlerhaft verspätete Diagnose und Therapie

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 12/2009

Kasuistik

Bei einem fünfjährigen Knaben waren alle empfohlenen Vorsorgeuntersuchungen zur Erkennung von Krankheiten und Entwicklungsstörungen kinderärztlich zeitgerecht vorgenommen worden. Dabei erfolgten die Untersuchungen U3 bis U9 durch ein und dieselbe Kinderärztin. Als der Junge acht Monate nach der U9 Untersuchung im Alter von fünf Jahren und acht Monaten einem anderen Kinderarzt vorgestellt wurde, diagnostizierte dieser einen einseitigen Hodenhochstand. Nach einer kurzzeitigen Hormonbehandlung erfolgte schließlich die operative Korrektur der Hodenfehllage durch einen Kinderchirurgen. Der Operateur fand einen retroperitoneal gelegenen, hypoplastischen Hoden. Gleichzeitig lag ein indirekter (angeborener) Leistenbruch vor. Der Hoden konnte erfolgreich in das Skrotum verlagert werden und zeigte nachfolgend unter Hormonbehandlung eine gute Größenentwicklung.

Die Eltern des Kindes werfen der Kinderärztin, die die U3 bis U9 Untersuchungen vornahm und den Jungen zusätzlich auch wegen einer Balanitis und eines Harnwegsinfektes behandelte, vor, dass sie die Hodenfehllage fehlerhaft nicht erkannt hätte. Dieser ärztliche Fehler habe nach Ansicht der Eltern des Jungen dazu geführt, dass die Chancen auf eine erfolgreiche Hormonbehandlung vergeben wurden und ein operativer Eingriff notwendig geworden war. Durch die Operation erst im Alter von fast sechs Jahren seien auch die späteren Fertilitätsaussichten reduziert worden und es bestünde das erhöhte Risiko einer malignen Entartung des Hodens.

Die Kinderärztin verweist auf die wiederholten Untersuchungen, bei denen sie keinen Hodenhochstand festgestellt habe. Sie geht davon aus, dass es zu einem sekundären Maldescensus testis nach der letzten von ihr durchgeführten Untersuchung gekommen sein müsse.

Der durch die Schlichtungsstelle beauftragte kinderärztliche Gutachter stellt den sekundären Maldescensus testis in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Er geht davon aus, dass bei den vielen Vorstellungen und Untersuchungen des Jungen eine Hodenfehllage erkannt worden wäre, wenn sie denn tatsächlich vorgelegen hätte. Demnach müsse es nach Beendigung der Betreuung durch die Kinderärztin zu einem Aszensus des Hodens gekommen sein, der schließlich in die bei der Operation gefundenen Fehllage gemündet habe. Der Kinderärztin sei somit nicht der Vorwurf einer fehlerhaften Diagnose zu machen.

Die Schlichtungsstelle konnte sich der Argumentation des Gutachters nicht anschließen.

Der Maldescensus testis als angeborene Fehlbildung betrifft drei bis sechs Prozent aller neugeborenen Knaben. In den ersten Lebensjahren ist noch ein spontaner Descensus testis möglich. Ein Ascensus testis (Wiederaufsteigen eines sich im Skrotum befindenden Hodens im Verlauf der ersten Lebensjahre) wird nur in seltenen Fällen beobachtet und kann durch unterschiedliche Mechanismen verursacht sein:

  • Ein Hoden wird als Pendelhoden diagnostiziert (Hoden mit unterschiedlicher Lage im Skrotum und im Leistenkanal), ist de facto aber ein Gleithoden, der durch das Wachstum weiter nach oben verlagert wird.
  • Der echte sekundäre Maldescensus testis. Hierbei handelt es um einen Hoden, der durch bindegewebige Stränge einem offenen Processus vaginalis peritonei anhaftet und im Verlauf des Wachstums langsam nach oben verlagert wird. Dieser sekundäre Maldescensus testis ist selten (0,5 bis 2 Prozent aller Maldescensus testis-Formen).
  • Zu einem sekundären Hodenhochstand kann es auch nach Eingriffen im Leistenkanal kommen, zum Beispiel nach Leistenbruchoperationen.

Die Schlichtungsstelle schließt diese Möglichkeiten für einen sekundären Ascensus testis im konkreten Fall aus. Sie stützt sich dabei vor allem auf die Befunde, die bei der Operation des Knaben erhoben wurden. Die während des Eingriffs festgestellte hohe Hodenlage schließt sowohl das Vorliegen eines Gleithodens als auch eine Aszension vom Skrotum bis in die retroperitoneale Bauchhöhle in einem Zeitraum von weniger als einem Jahr aus

Die Schlichtungsstelle stellt damit fest, dass die Nichterkennung eines Maldescensus testis im Rahmen einer mehrjährigen kinderärztlichen Betreuung des Jungen als Verstoß gegen den gebotenen Fachgebietsstandard zu werten ist.

Bezüglich der seitens der Eltern des Kindes beklagten Folgen, die sich aus der verspäteten Diagnose des Maldescensus testis ergäben, verweist die Schlichtungsstelle darauf, dass in diesem Fall bei der hohen Hodenlage und dem offenen Processus vaginalis peritonei eine Operation auch bei frühzeitigerer Diagnose und Hormonbehandlung nicht vermeidbar gewesen wäre. Eine statistisch nachweisbare Prognoseverschlechterung für die spätere Fertilität kann zwar aus der verspätet vorgenommenen Operation abgeleitet werden, doch lässt sich eine Kausalität zwischen verspäteter Operation und reduzierter Fertilität im konkreten Fall nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellen, weil eine verminderte Zeugungsfähigkeit auch Folge der Grunderkrankung sein kann. Das Malignitätsrisiko ist bei allen Formen eines Maldescensus testis erhöht. Es gibt jedoch keine belastbaren Untersuchungen, aus denen hervorgehen würde, dass dieses Risiko bei einer Operation im siebten Lebensjahr größer wäre, als bei einem Eingriff im zweiten Lebensjahr.

Da eine Kausalität nicht zu begründen war, konnte die Schlichtungsstelle keine Empfehlung für die Regulierung eines Schadenersatzes geben.

Autoren:

OAF

Dr. med. Otto-Andreas Festge, Universitätsprofessor

Facharzt für Kinderchirurgie
Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover