Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Nervenschäden bei der Wundversorgung übersehen

Kasuistik

Bei einem Sturz verletzte sich eine 38-jährige Patientin. Durch zerbrochenes Flaschenglas erlitt sie eine Schnittverletzung in der linken Hohlhand. Die ärztliche Erstversorgung erfolgte am Unfalltag in einer zentralen Notfallambulanz der beklagten Klinik durch einen unfallchirurgischen Assistenzarzt. Dokumentiert wurde eine längsverlaufende, klaffende und blutende Schnittwunde in Höhe des linken Daumenballens. In der Wunde befanden sich vereinzelte Fremdkörper, die sich im Weiteren als Glasstücke herausstellten.

Am beugeseitigen Daumen links wurde von der Patientin eine Gefühlsminderung (Hypästhesie) beschrieben. Sowohl Streckung als auch Beugung der Daumengelenke waren jedoch uneingeschränkt möglich. Daraufhin wurde der Wundgrund mit einer Kochsalzlösung gespült. Zusätzlich wurden mehrere kleine Glaskörper entfernt, die Wunde erneut gespült und mit resorbierbaren Subkutannähten verschlossen.

Bei der Röntgenuntersuchung der linken Hand in zwei Ebenen, die nach der Entfernung oberflächlicher Fremdkörper und nach der Naht der Wunde erfolgte, zeigten sich kleine Glasstücke im Bereich der Thenarregion palmar auf Höhe des Os metakarpale des 2. Fingers. Zwei Glasstücke sowie eventuell ein weiteres waren zwischen den Ossa metakarpalia des 3. und 4. Fingers zu sehen.

Zwei Monate später stellte sich die Patientin wegen des anhaltenden Taubheitsgefühls am linken Daumen in einer anderen Klinik vor. Neurologisch wurde eine Schädigung des Nervus medianus im Versorgungsgebiet des Daumens diagnostiziert.

Bei der Wundrevision wurde eine komplette Durchtrennung des motorischen Medianusastes und des ulnaren und radialen Daumennervens mit Neurombildung im Verletzungsbereich nachgewiesen. Einzelne Glasstücke wurden entfernt. Die defekten, durchtrennten Daumennerven wurden mit zweifachen sensiblen Hautnerventransplantaten vom linken Unterarm versorgt und der motorische Ast genäht. Die weitere ambulante Behandlung erfolgte durch einen Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie.

Beanstandung der ärztlichen Maßnahmen

Der Anwalt der Patientin geht von einem Behandlungsfehler durch die Ärzte in der erstbehandelnden Klinik bei der primären Wundversorgung aus.

Stellungnahme Krankenhaus

Die Ärzte widersprechen der patientenseitigen Darstellung und verweisen auf eine fachgerechte ärztliche Versorgung der Verletzung am Unfalltag. Die Untersuchungen seien gewissenhaft durchgeführt worden und es seien durch mehrfache Spülungen alle sichtbaren Fremdkörper entfernt worden. Auch in der Tiefe hätten sich keine Hinweise auf eine Nervenbeteiligung gefunden.

Gutachten

Der von uns beauftragte Gutachter, Facharzt für Chirurgie und Orthopädie mit den Zusatz-Weiterbildungen spezielle Unfallchirurgie und Handchirurgie, hat folgende Kernaussagen getroffen:

Bei der patientenseits beanstandeten Behandlung sei seinerzeit in der erstbehandelnden Klinik gegen geltende Standards verstoßen, also fehlerhaft gehandelt worden. Die diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen am Unfalltag seien im Hinblick auf die Schnittverletzung an der linken Hand nicht ausreichend gewesen. Die Entfernung der Glaskörper in der Tiefe der Wunde hätten primär durch eine operative Revision erfolgen müssen.

Die Patientin hätte dann nicht zwei Monate lang über Schmerzen in der linken Hand geklagt. Es wäre nicht zu einer Neurombildung des durchtrennten Daumennervens gekommen und eine Nerventransplantation wäre höchstwahrscheinlich nicht erforderlich gewesen. Auch bei ordnungsgemäßer primärer Versorgung der Verletzung hätte allerdings mit Gefühlsstörungen am Daumen auf Dauer gerechnet werden müssen.

Entscheidung der Schlichtungsstelle

Die Schlichtungsstelle kam zu folgendem Ergebnis:

Das primäre ärztliche Vorgehen war fehlerhaft, weil die diagnostischen Maßnahmen unzureichend waren. Im vorliegenden Fall waren Mängel in der Befunderhebung festzustellen. Hier kommt es unter folgenden Voraussetzungen zu einer Umkehr der Beweislast zugunsten der Patientenseite:

  1. Es wurden Befunde nicht erhoben, die dem Standard gemäß hätten erhoben werden müssen. Es hätte somit eine operative Entfernung der Glasstücke erfolgen müssen mit einer Überprüfung der übrigen Strukturen. Aufgrund der Lage der Glasstücke hätten etwaige Verletzungen unter anderem der Nervenstrukturen abgeklärt werden müssen.
  2. Bei standardgemäßer Untersuchung hätte man mit hinreichender Wahrscheinlichkeit einen abklärungs- beziehungsweise behandlungsbedürftigen Befund erkannt. Der Bundesgerichtshof hat den Begriff „hinreichend“ nicht weiter definiert. Die Oberlandesgerichte definieren das Maß aber – unwidersprochen vom Bundesgerichtshof – als überwiegende Wahrscheinlichkeit, also mehr als 50 Prozent. Bei der operativen Entfernung der Glasstücke wäre die Durchtrennung der Nerven mit hinreichender Wahrscheinlichkeit festgestellt worden.
  3. Das Unterlassen der Behandlung in Kenntnis der richtigen Diagnose würde eine erhebliche Standardunterschreitung und damit einen schweren Behandlungsfehler darstellen. Bei Kenntnis der Nervendurchtrennung nicht zeitnah eine Nervennaht vorzunehmen, hätte in Anbetracht der Risiken einer zeitnahen Versorgung, die sich dann auch eingestellt haben, einen schweren Behandlungsfehler dargestellt.

Vor dem Hintergrund der Beweislastumkehr reicht es für den Kausalitätsnachweis aus, dass die zu unterstellende fundamentale Verkennung des zu erwartenden Befundes oder die Nichtreaktion darauf generell geeignet ist, einen Schaden der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen.

Gesundheitsschaden

Die Beweislastumkehr bezieht sich auf folgende Primär- und typischerweise damit verbundene sekundäre Gesundheitsschäden:

Die Sensibilitätsstörungen im Versorgungsgebiet eines Stammnervens und Funktionsbeeinträchtigungen an der linken Hand.

Bei korrekter Versorgung und infektfreier Abheilung der Wunde wäre nach ärztlicher Erfahrung mit folgendem Verlauf zu rechnen gewesen:

  • Zeitnahe operative Revision der Schnittwunde und Nähte der verletzten Nerven.
  • Ruhigstellung des Handgelenkes in einer Schiene für drei bis vier Wochen.
  • Krankengymnastische Übungsbehandlungen unter Anleitung.
  • Abschluss der Behandlung nach sechs bis acht Wochen.

Autoren:

Dr. med. Michael Schönberger

Facharzt für Chirurgie, Unfallchirurgie, Handchirurgie, Skelettradiologie
Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover

Schaffartzik

Prof. Dr. med. Walter Schaffartzik

Facharzt für Anästhesiologie und Intensivmedizin sowie
Vorsitzender der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover

Christine Wohlers, Rechtsanwältin

Juristin in der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover