Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 06/2007
Kasuistik
Wegen akut aufgetretener Beschwerden im rechten Unterbauch suchte ein 21-jähriger junger Mann gegen 22.00 Uhr die Notfallaufnahme eines Städtischen Klinikums auf. Die Beschwerden waren drei Stunden zuvor aufgetreten.
Der diensthabende Arzt (kein Urologe) untersuchte das Abdomen, fertigte Sonographien an und veranlaßte Laboruntersuchungen. Eine Inspektion sowie eine körperliche Untersuchung der Leisten- und Genitalregion unterblieb.
Als Ursache der Beschwerden wurde eine mögliche Harnleitersteinpassage oder eine Entzündung im Intestinalraum angenommen und eine Spasmoanalgesie eingeleitet. Der junge Mann wurde aus der Ambulanz nach Hause entlassen mit der Maßgabe, sich am nächsten Morgen weiter untersuchen zu lassen.
Am folgenden Morgen wurde von dem jetzt konsultierten Urologen eine zunehmend dolente Schwellung des Skrotalinhalts festgestellt. Unter der Verdachtsdiagnose Hodentorsion erfolgte die sofortige stationäre Einweisung in das schon vorher aufgesuchte Klinikum. Dort wurde gegen 13.30 Uhr nach Farbdopplerschalluntersuchung eine Hodentorsion operativ saniert. Der Hoden konnte retorquiert und in situ belassen werden.
Der von dem Patienten erhobene Vorwurf gegen den diensthabenden Aufnahmearzt, eine Hodentorsion nicht erkannt zu haben, respektive einer solchen nicht hinreichend nachgegangen zu sein, wird von dem externen Gutachter, der von der Schlichtungsstelle beauftragt wurde, bestätigt.
Der Gutachter moniert insbesondere die Unterlassung einer Untersuchung des äußeren Genitales, die bei unklaren Unterbauchbeschwerden auf jeden Fall hätte erfolgen müssen.
Hier hätten sich entsprechende Hinweise finden lassen, daß die vom Patienten geklagten Beschwerden ihren Ausgangspunkt im Genitalbereich hatten. Es wäre dann im Hause vorhandener urologischer Sachverstand zu Rate zu ziehen gewesen.
Die dann wahrscheinlich gestellte Verdachtsdiagnose Hodentorsion hätte die sofortige operative Intervention erforderlich gemacht, die den Hoden in besserer Funktion hätte erhalten können.
Von gutachterlicher Seite werden hier Mängel in der Befunderhebung festgestellt und Versäumnisse aufgezeigt, die von der Schlichtungsstelle bestätigt werden.
Auch bei nicht klassischer Symptomatik und mit unklaren Unterbauchbeschwerden wäre eine körperliche Untersuchung nicht nur des Abdomens, sondern auch der Leistenregion und des Genitales zwingend nötig gewesen, dieses auch unter dem Wissen, daß unklare Genitalerkrankungen (z. B. Hodentorsion) eine Schmerzprojektion in den Unterbauch haben können. Eine entsprechende klinische Untersuchung hätte den Verdacht auf eine Genitalaffektion als Ursache der Beschwerden gelenkt. Damit wäre die konsiliarische Einbeziehung des diensthabenden Urologen erforderlich gewesen.
Eine chirurgische Intervention der Hodentorsion hätte dann noch in einem vertretbaren Zeitfenster stattfinden können. Als Folge dieses Versäumnisses ist festzustellen, daß der Hoden in seiner Funktion deutlich geschädigt sein wird, wie eine kontrollierende Untersuchung knapp drei Monate nach dem Ereignis zeigte. Jetzt fand sich eine beginnende Hodenatrophie. Dopplersonographisch wurde nur noch eine geringe Durchblutung des erkrankten Hodens festgestellt.
Die Mängel in der Befunderhebung führten zu einer Beweislasterleichterung zugunsten des Patienten.
Die Schlichtungsstelle hielt Schadenersatzansprüche für begründet, wobei ggf. eine weitere Operation mit Entfernung des Hodens, die bei zunehmender Atrophie nötig werden könnte, ebenfalls als Schadensfolge zu verstehen wäre.