Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Nicht erkannte und daher nicht rechtzeitig behandelte isolierte Radiusköpfchenluxation bei einem Kind

Undetected and thus Late Treatment of Child with Isolated Dislocation of Head of Radius

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 02/2000

Kasuistik

Ein zum Unfallzeitpunkt fast 7jähriges Kind erlitt durch einen Sturz vom Klettergerüst eine Verletzung des rechten Ellenbogengelenkes in Form einer isolierten Radiusköpfchenluxation. Diese Verletzung wurde bei der Erstvorstellung in der Notfallambulanz eines Städtischen Klinikums nicht erkannt. Das rechte Ellenbogengelenk wurde mit einer Oberarmgipsschiene ruhiggestellt. Die Weiterbehandlung übernahm ein niedergelassener Chirurg. Auch hier wurde im weiteren Behandlungsverlauf die Diagnose nicht gestellt.

Wegen fortbestehender Beschwerden erfolgte 5 Wochen später nochmals die Vorstellung in der Kinderchirurgischen Ambulanz des genannten Klinikums. Aufgrund der Röntgenkontrollaufnahmen des rechten Ellenbogengelenkes wurde jetzt die Diagnose einer Myositis ossificans gestellt, die Verrenkungsstellung des Radiusköpfchens wurde jedoch abermals nicht beschrieben. Die exakte Diagnose wurde kurze Zeit danach durch einen niedergelassenen Orthopäden gestellt. Dieser leitete wegen der inzwischen veralteten Radiusköpfchenluxation eine stationäre Behandlung in einer Orthopädischen Klinik ein. Hier wurde das Kind zweimal operiert. Eine vollständige Wiederherstellung der normalen Ellenbogengelenksfunktion konnte jedoch nicht erzielt werden. Zum Zeitpunkt der Antragstellung bestanden weiterhin erhebliche Beschwerden und Behinderungen.

Die Mutter des Kindes beanstandet, daß die Verletzung in der erstbehandelnden Einrichtung nicht diagnostiziert und folglich nicht korrekt behandelt wurde. Der eingetretene Behinderungszustand sei auf den Diagnose- bzw. Behandlungsfehler im genannten Klinikum zurückzuführen.

Die verantwortlichen Ärzte nahmen zum Vorgang Stellung. Die Röntgenaufnahmen des rechten Ellenbogengelenkes seien sowohl von einem Unfallchirurgen als auch von einem Radiologen beurteilt worden. Eine Luxationsstellung des Radiusköpfchens sei weder auf den Unfallaufnahmen noch auf den Kontrollaufnahmen zu erkennen gewesen.

Der Gutachter kam nach Beurteilung der Behandlungsdokumentation und der Röntgenaufnahmen sowie nach Untersuchung des Kindes zu folgenden Ergebnissen:

  • Folge des Unfalles war eine isolierte Radiusköpfchenluxation rechts. Diese Verletzung war auf den Unfallaufnahmen eindeutig erkennbar. Die korrekte Behandlung hätte in der sofortigen geschlossenen Reposition mit Ruhigstellung im Gipsverband bestehen müssen. Bei Unmöglichkeit einer geschlossenen stabilen Reposition hätte unverzüglich die operative Reposition angeschlossen werden müssen.
  • Die Nichterkennung der Radiusköpfchenluxation führte zu einer Verzögerung der Diagnose um 5 Wochen. In dieser Zeit war als weitere Verletzungsfolge eine teilweise Verknöcherung der Gelenkkapsel eingetreten. Die einfache Reposition der Luxation war nicht mehr möglich.
  • Die verzögerte Behandlung mit 2 Operationen brachte letztlich kein befriedigendes Ergebnis. Bei der Untersuchung klagte das Kind über belastungsabhängige Schmerzen im rechten Ellenbogengelenk. Die Luxationsstellung bestand nach wie vor mit inzwischen eingetretener Verlängerung der Speiche (Radiusvorschub). Die Verknöcherungen im Bereich von Gelenkkapsel bzw. Gelenkbändern waren weiterhin nachweisbar. Die Ellenbogenfunktion war sowohl in der Streck-Beuge- als auch in der Drehbewegung erheblich eingeschränkt.
  • Die Nichterkennung der Radiusköpfchenluxation und die daraus resultierende Nichtbehandlung stellen einen vermeidbaren Behandlungsfehler dar. Bei korrekter Primärbehandlung hätte mit großer Wahrscheinlichkeit eine folgenlose Ausheilung der Verletzung erwartet werden können.

Als Folgen des Behandlungsfehlers werden vom Gutachter angeführt:

  • Verlängerung der Behandlungsdauer, gerechnet ab Datum 4 Wochen nach dem Unfall, vorerst noch nicht absehbar, da die Behandlung noch andauert.
  • Persistierender Luxationszustand.
  • Dauerschaden in Form von Schmerzen und erheblicher Funktionseinschränkung des rechten Ellenbogengelenkes und Einschränkung der Berufswahlmöglichkeit.

Die Schlichtungsstelle schloß sich in allen Punkten den Wertungen des Gutachters an. Die Radiusköpfchenluxation, isoliert oder in Verbindung mit einer Ulnafraktur (Monteggia-Schaden), ist eine zwar seltene, aber typische Verletzung des Kindesalters. Die Beurteilung von Ellenbogengelenksaufnahmen, die zur Feststellung von Unfallfolgen angefertigt wurden, schließt stets auch die Beurteilung der humero-radialen Artikulation ein (die proximale Verlängerung der Radiuslängsachse trifft, auch bei Schrägprojektion, auf die Mitte des Capitulum humeri). Das Übersehen einer Radiusköpfchenluxation ist häufig folgenschwer, wie der vorliegende Fall zeigt. Korrekturoperationen bei veralteter Radiusköpfchenluxation führen häufig nicht mehr zu einer normalen Gelenkfunktion und Gelenkbelastbarkeit. Dies hat unweigerlich Auswirkungen auf die spätere Berufswahl.

Das Übersehen einer Radiusköpfchenluxation im Röntgenbild kann nicht unter Berufung auf besondere Umstände entschuldigt werden. Für Folgen dieser Fehldiagnose haftet grundsätzlich der verantwortliche Arzt.

Autoren:

HV

Prof. Dr. med. Heinrich Vinz

Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover