Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Nicht erkanntes Spätrezidiv eines Mammakarzinoms

Late Recurrence of Breast Cancer not Detected

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 02/2010

Einleitung
Patientinnen mit primär erfolgreich behandeltem Mammakarzinom haben trotz adjuvanter Therapiemaßnahmen ein Rezidivrisiko auch jenseits der Fünf-Jahres-Überlebenszeit, das für das Stadium I mit sieben Prozent, für das Stadium II mit elf Prozent und für das Stadium III mit 13 Prozent angegeben wird. Spätrezidive beziehungsweise -metastasen sind relativ selten, können jedoch im Einzelfall noch bis zu 25 Jahre nach Erstdiagnose und Primärtherapie eines Mammakarzinoms auftreten.

Kasuistik

Bei der 1960 geborenen Patientin war im Dezember 1993 wegen eines Mammakarzinoms rechts eine brusterhaltende Operation mit Axilladissektion im Stadium pT1c pN1 M0 mit anschließend adjuvanter Chemo- und Radiotherapie durchgeführt worden. Nachsorgeuntersuchungen in der Folgezeit blieben zunächst ohne pathologische Befunde. Im Januar 2005 wurde ein Anstieg des Tumormarkers CA 15-3 beobachtet. Die deshalb kurzfristig in der Frauenklinik veranlasste Untersuchung mit bildgebender Diagnostik (unter anderem Mammographie, Röntgen-Thorax, Ultraschall Leber, Skelettszintigraphie) ergab keine Hinweise auf Lokalrezidiv, Metastasen oder ein Zweitkarzinom. Die Patientin war zu diesem Zeitpunkt ohne konkrete Beschwerden.

Am 11. April 2005 stellte sich die Patientin wegen seit einigen Wochen zunehmenden Hustenreizes bei ihrem Hausarzt vor, der noch am gleichen Tag eine Röntgenuntersuchung der Thoraxorgane veranlasste. Der radiologische Befund war unauffällig. Mit diesem Ergebnis und anhaltendem Hustenreiz kam die Patientin am 29. April 2005 in Behandlung eines Facharztes für Pulmologie. Spezielle Untersuchungen führten zur Diagnose einer bronchialen Hyperreagilibität. Diese Diagnose wurde nach einer Bronchoskopie am 26. Mai 2005 auf „hypersekretorische Bronchitis“ ergänzt beziehungsweise modifiziert. Eine symptomatische Behandlung wurde eingeleitet. Anlässlich der nächsten Vorstellung bei diesem Arzt am 11. Juli 2005 berichtete die Patientin über anhaltend starke Hustenanfälle und zusätzlich aufgetretene Thoraxschmerzen. Lungenfunktionsuntersuchungen zeigten eine restriktive Ventilationsstörung. Die symptomatische Behandlung wurde intensiviert. Am 18. August 2005 kam es bei anhaltenden beziehungsweise progredienten Atembeschwerden zur erneuten Vorstellung bei dem Pulmologen, der die Fortführung der bisherigen Behandlungsmaßnahmen empfahl.

Am 20. August 2005 traten als neues Symptom Sehstörungen auf. Die vom konsultierten Augenarzt sofort veranlasste Kernspintomographie des Kopfes zeigte tumoröse Veränderungen im Bereich der Aderhaut links. Das führte kurzfristig zur stationären Einweisung und Diagnose einer ausgedehnten Metastasierung (Tumorbefall am Augenhintergrund links, Pleura mit malignen Ergüssen, Lungen beiderseits sowie Wirbelsäule). Die Histologie von Pleurabiopsien sprach für Metastasen eines Mammakarzinoms. Eine systemische Chemotherapie, die Behandlung mit Bisphosphonaten und eine lokale Bestrahlung des linken Auges wurden eingeleitet. Innerhalb weniger Wochen kam es zu deutlich gebesserter Befindlichkeit. Ein Jahr später, im Oktober 2006, waren die Sehkraft des linken Auges weitgehend unbeeinträchtigt, die Pleuraergüsse nicht mehr nachweisbar, die noch immer weitgehend asymptomatischen Lungen- und Wirbelsäulenmetastasen in bildgebender Diagnostik nicht progredient und die Lebensqualität in Kenntnis der Tumorkrankheit auf akzeptablem Niveau erhalten.

Die Patientin beanstandete die Behandlung durch den Pulmologen ab 29. April 2005 und wandte sich an die Schlichtungsstelle. Die Lungen- und Pleurametastasierung sei fehlerhaft nicht erkannt worden. Das habe zu einer erheblichen Einschränkung ihrer Lebensqualität über einen Zeitraum von cirka vier Monaten bis zur Einleitung der adäquaten Therapie geführt.

Der von der Schlichtungsstelle beauftragte Gutachter kam zu folgenden Feststellungen: Die am 29. April und 26. Mai 2005 von dem Pulmologen durchgeführten diagnostischen Maßnahmen und die von ihm zu diesem Zeitpunkt gestellten Diagnosen der nicht-malignen Lungenerkrankung (bronchiale Hyperreagibilität nach Inhalation von Histamin, hypersekretorische Bronchitis in der Bronchoskopie) seien nachvollziehbar und nicht zu beanstanden. Auch mit dem insoweit eingesetzten Therapiekonzept wären keine geltenden Standards missachtet worden. Bei der Vorstellung am 11. Juli 2005 sei – bei fehlender Besserung der Beschwerdesymptomatik und zusätzlicher Angabe von Thoraxschmerzen – in der Lungenfunktionsuntersuchung eine zwischenzeitlich neu aufgetretene Restriktion feststellbar gewesen. An diesem Tag hätten die initialen Diagnosen Anlass zu kritischem Überdenken geben müssen. Eine radiologische Diagnostik sei am 11. Juli 2005, spätestens aber am 18. August 2005 erforderlich gewesen Das wäre fehlerhaft unterlassen worden.

In seiner Stellungnahme macht der in Anspruch genommene Pulmologe geltend, dass die am 11. Juli 2005 von der Patientin berichteten Thoraxschmerzen aus seiner Sicht Folge der Hustenanfälle waren. Das Ergebnis der Tumormarker-Bestimmung von Januar 2005 sei ihm nicht bekannt gewesen. In Kenntnis dieses Befunds hätte er sofort eine weiterführende Diagnostik eingeleitet.

Die Entscheidung der Schlichtungsstelle

Es ist davon auszugehen, dass es bei der Patientin ab Anfang 2005 zu einer langsam progredienten und bis April 2005 in der konventionellen Röntgendiagnostik noch nicht nachweisbaren Lungenmetastasierung des 1993 erfolgreich behandelten Mammakarzinoms kam. Mit dieser Annahme vereinbar sind der im Januar 2005 festgestellte Anstieg des Tumormarkers und der kurzfristig danach neu aufgetretene Hustenreiz. Derartig verzögerte Verlaufsformen von Tumorkrankheiten sind selten. Sie kommen jedoch – insbesondere bei der Häufigkeit zunächst erfolgreich behandelter Mammakarzinome bei jungen Frauen – in der täglichen Praxis vor und ihre Manifestationen müssen von Fachärzten in die differenzialdiagnostischen Überlegungen einbezogen werden. In Übereinstimmung mit dem Gutachter ist feststellbar, dass die am 29. April und 26. Mai 2005 von dem Internisten gestellten „konkurrierenden Diagnosen“ der nicht-malignen Lungenerkrankungen sowie seine darauf basierenden therapeutischen Maßnahmen nachvollziehbar und nicht zu beanstanden sind. Selbst in Kenntnis erhöhter Tumormarker wäre der Arzt unter Berücksichtigung der weiteren Befunde (unter anderem Röntgen-Thorax unauffällig, Prick-Test, Bronchoskopie) berechtigt gewesen, seine initial gestellten Diagnosen zu favorisieren und zunächst auf ergänzende bildgebende Diagnostik zu verzichten. Bei der nächsten Vorstellung am 11. Juli 2005 musste jedoch zur Kenntnis genommen werden, dass trotz der bisher durchgeführten Therapie keine Besserung der Beschwerdesymptomatik zu verzeichnen war. Zusätzlich wurden von der Antragstellerin jetzt auch Thoraxschmerzen beklagt. An diesem Punkt hätte die initiale Diagnose der nicht-malignen Lungenerkrankung überprüft werden müssen, zumal auch die mittlerweile eingetretene Restriktion in der Lungenfunktionsprüfung hiermit nicht mehr vereinbar war. Der Verzicht auf eine Röntgen-Kontrolluntersuchung der Thoraxorgane am beziehungsweise kurzfristig nach dem 11. Juli 2005 ist als vermeidbarer Behandlungsfehler (Befunderhebungsmangel) zu klassifizieren. Es ist davon auszugehen, dass bei weiterführender Diagnostik am 11. Juli 2005 – also etwa fünf Wochen früher als tatsächlich erfolgt – die Lungen- beziehungsweise Pleurametastasierung nachgewiesen worden wäre. Die frühzeitigere Diagnose hätte allerdings unter Berücksichtigung der zu diesem Zeitpunkt bereits anzunehmenden Ausdehnung der Tumorkrankheit keine Auswirkung hinsichtlich der Prognose gehabt. Eine Heilung wäre auch im Juli 2005 nicht mehr möglich gewesen. Ziel aller Behandlungsmaßnahmen konnte es damit – wie im August 2005 – lediglich sein, die Beschwerden zu lindern und das Fortschreiten der Erkrankung zu verlangsamen. Zu einer Beeinträchtigung der Lebenserwartung ist es nicht gekommen. Der vermeidbare Fehler hat jedoch zu einer Verlängerung der Krankheitsdauer der Patientin von fünf Wochen bis zum Beginn der erforderlichen Therapiemaßnahmen geführt.

Die Schlichtungsstelle hielt Schadenersatzansprüche in diesem Rahmen für begründet und, empfahl eine außergerichtliche Regulierung.

Autoren:

HR

Prof. Dr. med. Herbert Rasche

Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover