Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Nicht indizierte elektive Operation eines Narbenbruches und einer Fettschürze bei hohem Operations- und Anästhesierisiko (ASA IV)

Elective Operation of Incisional Hernia and Penniculus without Medical Indication in Patient with High Surgical and Anesthesia Risk (ASA IV)

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 12/2006

Kasuistik

Eine 70 Jahre alte Frau war durch folgende Krankheiten gesundheitlich schwerst beeinträchtigt:

  • hochgradige Adipositas, BMI 43 kg/m²
  • schwere chronische obstruktive Lungenerkrankung
  • Herzinsuffizienz, Ödeme
  • periphere arterielle Verschlußkrankheit, Zustand nach aorto-bifemoraler Bypass-Operation, Hyperlipämie
  • „Skelettbeschwerden“ (Benutzung eines Rollators zur Fortbewegung)

Nach der bereits 10 Jahre zuvor durchgeführten Bypass-Operation war es zu einem faustgroßen Narbenbruch gekommen, der der Patientin keine Beschwerden bereitete. Wegen dieses Narbenbruches waren vorangehend einmal anläßlich eines Klinikaufenthaltes, einmal im Rahmen einer Vorstellung in einer Chirurgischen Praxis Untersuchungen erfolgt zur Frage der Operationsindikation. Bei beiden Untersuchungen wurde festgestellt, daß in Anbetracht des hohen Operationsrisikos auf nicht dringliche operative Maßnahmen verzichtet werden sollte. Nachdem sich in der Fettschürzenfalte ein chronisches „therapieresistentes Druckulcus“ entwickelt hatte, erfolgte durch einen Internisten dann doch die Einweisung zur chirurgischen Therapie in ein Krankenhaus der Grund- und Regelversorgung. Im Aufnahmebefund wird eine faustgroße, reponible Narbenhernie paraumbilikal beschrieben. Nach Vorbehandlung des Ulcus wurde die Operation in Form des Bruchpfortenverschlusses und der Resektion der Fettschürze („Bauchdeckenplastik“) ausgeführt. Postoperativ kam es zunächst zur Infektion der großflächigen Operationswunde, die wiederholte Wundrevisionen erforderlich machte, aber auf Dauer nicht beherrscht wurde. Im weiteren Verlauf kam es zu Komplikationen durch die Grundkrankheiten: Ateminsuffizienz, Sepsis, Kreislaufdestabilisierung. Trotz aufwendiger Intensivtherapie verstarb die Patientin 4 Wochen nach der Operation. Die Obduktion ergab als hauptsächliche unmittelbare Todesursache eine beidseitige Pneumonie, die klinische Diagnose einer Sepsis fand im Obduktionsprotokoll keine Entsprechung.

Die Angehörigen der Verstorbenen baten um Überprüfung der Behandlung in einem Schlichtungsverfahren.

Der verantwortliche Arzt des in Anspruch genommenen Krankenhauses begründete die Operationsindikation mit einem sehr schmerzhaften Narbenbruch mit Einklemmungserscheinungen (diese Darstellung zeigt jedoch keine Entsprechung in der aktuellen Behandlungsdokumentation, wo eine reponible Hernie ohne Schmerzen beschrieben wurde). Der tödliche Ausgang wurde auf die schweren Begleitkrankheiten zurückgeführt.

In dem von der Schlichtungsstelle angeforderten chirurgischen Gutachten wird zunächst auf erhebliche Dokumentationsmängel verwiesen, die bestimmte Entscheidungen und Maßnahmen nicht nachvollziehen ließen, insbesondere

  • keine Befundbeschreibung des Ulcus
  • keine Beschreibung der infizierten Wunde, zum Teil fehlende Berichte über die operativen Revisionen
  • keine bakteriellen Befunde über Wundabstriche
  • keine ärztliche Verlaufsberichterstattung über den gesamten Behandlungszeitraum,
  • kein ärztlicher Abschlußbericht.

Der Gutachter sah die Operationsindikation als „relativ“ an, die Operation hätte planmäßig ausgeführt, aber auch ohne unmittelbare Gefahr für Leben und Gesundheit der Patientin unterlassen werden können.

Aufgrund des Krankheitsverlaufes – soweit rekonstruierbar – und des Operationsbefundes ging die Schlichtungsstelle in ihrer abschließenden Beurteilung von folgenden Voraussetzungen aus:
Der tödliche Verlauf nahm seinen Ausgang von einem zunehmenden Versagen der inneren Organe. Diese Organe, insbesondere Lungen, Herz, Nieren befanden sich schon vor der Operation an der Grenze zur Dekompensation. Zusätzlich bestand aufgrund der Adipositas und der Skelettbeschwerden weitgehende Immobilität (Fortbewegung mit Rollator!). Zum endgültigen Organversagen hat die Wundinfektion mit den hierdurch bedingten Belastungen: Chronischer, großflächiger, eitriger Entzündungsherd mit Intoxikation, häufige Narkosen und Wundrevisionen, wesentlich beigetragen.

Es war nun die Frage zu beantworten, ob bei der relativen Operationsindikation im hier zu beurteilenden Fall die Operation elektiv hätte durchgeführt werden sollen, oder ob man angesichts der risikobehafteten Begleitkrankheiten von einer Operation hätte Abstand nehmen müssen. Die Schlichtungsstelle ging davon aus, daß die Operation hätte unterlassen werden müssen, mit folgender Begründung:
Die bei der Patientin vorliegenden Krankheiten und Funktionseinschränkungen stellten in ihrer Gesamtheit ein Risiko dar, das nach der Einschätzung der ASA (American Society of Anesthesiology) der Klasse IV (maximales Risiko) zuzuordnen war: „Schwere Allgemeinerkrankung, die mit oder ohne Operation das Leben des Patienten bedroht“. Allein die Adipositas, die Lungenerkrankung und die Herzinsuffizienz würden jeweils für sich allein schon dem Risikograd III entsprochen haben: „Schwere Allgemeinerkrankung mit Leistungseinschränkung“. Hinzu kommt, daß eine Fettschürzenreduktion mit Ausweitung des Eingriffes auf eine Narbenbruchversorgung einen zusätzlich stark belastenden Maximaleingriff darstellt.

Der ASA-Score IV erlaubt wegen der hohen Mortalität nur Eingriffe aus vitaler Indikation, d. h. Operationen, die unmittelbar oder mittelbar der Abwendung von Lebensgefahr oder der Lebensrettung dienen. Diese Situation lag bei der Patientin zweifelsfrei nicht vor. Die Schlichtungsstelle sah in der Indikationsstellung zur Operation von Fettschürze und Narbenhernie einen vermeidbaren Fehler. Das extrem hohe Risiko wurde nicht korrekt und entsprechend dem ärztlichen Erfahrungsstand (ASA-Score) eingeschätzt. Diese Fehleinschätzung war nicht nachvollziehbar, insbesondere auch in Anbetracht dessen, daß vorher bereits zweimal von chirurgischer Seite von dieser Operation wegen des funktionellen Risikos abgeraten worden war.

Aus der fehlerhaften Indikationsstellung ergaben sich Schadenersatzansprüche aus dem gesamten Behandlungsverlauf:

  • Operation (Bauchdeckenplastik und Narbenhernienoperation)
  • allgemeine Beeinträchtigung und Schmerzen durch die nachfolgenden zahlreichen Revisionsoperationen, Anästhesien und Intensivtherapie über einen Zeitraum von über 4 Wochen – Tod

Die Schlichtungsstelle empfahl eine entsprechende außergerichtliche Regulierung der Schadensersatzansprüche der Angehörigen (Bestattungskosten etc.) und der (vererbbaren) Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche der Patientin.

Autoren:

HV

Prof. Dr. med. Heinrich Vinz

Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover