Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Nicht zeitgerechte Diagnose und Behandlung einer Appendizitis

Kasuistik

In einem Schlichtungsverfahren war die diagnostische Abklärung von Oberbauchbeschwerden zu prüfen, als deren Ursache sich eine perforierte gangränöse Appendizitis mit Unterbauchperitonitis erwies.

Ein 29-jähriger Patient stellte sich in einer Rettungsstelle einer Klinik mit Oberbauchschmerzen vor. Nach dem Behandlungsbericht hatten die Beschwerden 3 bis 4 Tage vorher mit Halsschmerzen begonnen und jetzt waren Magenschmerzen und Übelkeit mit Erbrechen hinzukommen. Auf Basis der klinischen Untersuchung wurden die Diagnosen „akute Gastritis und Tonsillitis“ gestellt. Nach Verabreichung von MCP, einer Infusion und Novalminsulfon erfolgte die Entlassung mit der Maßgabe zur Vorstellung beim Hausarzt bei persistierenden Beschwerden oder bei Verschlechterung eine Wiedervorstellung in der Rettungsstelle.

Nach diesen kurz nach Mitternacht erfolgten Maßnahmen stellte sich der Patient am selben Tag dort erneut vor. Im Bericht der Einrichtung ist als Diagnose mit Bezugnahme auf die Anamnese weiter akute Gastritis aufgeführt und die Entlassung wieder mit der Maßgabe einer Wiedervorstellung bei akuter Verschlechterung angegeben, nachdem sich erneut durch Gabe von Ringerlösung mit 2 g Novaminsulfon und 40 mg Buscopan eine Besserung zeigte.

Sechs Tage später ergab eine ambulante Abdomen-Sonografie in einer radiologischen Praxis eine deutlich pathologische Darmkokarde im rechten Unterbauch und führte am selben Tag mit der Verdachtsdiagnose eines freien Intervalls nach Perforation einer akuten Appendizitis zur Klinik-Einweisung. In der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie erfolgte eine fünfwöchige stationäre Behandlung wegen perforierter gangränöser Appendizitis mit Unterbauchperitonitis. Nach zunächst laparoskopischer Exploration erfolgte eine konventionelle Appendektomie mit Lavage und Drainage. Der weitere komplizierte Verlauf war durch die Notwendigkeit zu Re-Laparotomien, Lavagen, einer Ileostoma-Anlage und Rückverlagerung, Dünndarmdekompression, intraluminaler Dünndarm-Schienung sowie intraabdomineller VAC-Anlagen und -Wechsel gekennzeichnet.

Weitere stationäre Behandlungen im Zusammenhang mit der Appendizitis-Komplikation erfolgten wegen des Auftretens von Fadengranulomen im Bereich der Laparotomie-Narbe. Zusätzlich zur aktuellen Situation ergaben sich Untersuchungen und Behandlungen wegen abdomineller Schmerzen.

Beanstandung der ärztlichen Maßnahmen

Diagnose und Behandlung der Appendizitis seien nicht zeitgerecht erfolgt. Es hätten eine gründlichere klinische Untersuchung und Anamnese erfolgen müssen und über das Blutbild hinaus weitere Laborbefunde erhoben werden müssen. Auch sei eine Abdomen-Sonografie fehlerhaft unterlassen worden. Der Patient hätte bei bereits auffälligem Befund und ohne Sonografie nicht nach Hause entlassen werden dürfen. Die akute Blinddarmentzündung sei nicht erkannt worden. Es hätte durch eine Appendektomie am Tag nach der Erstvorstellung die Perforation verhindert werden können.

Stellungnahme Krankenhaus

Ein Wanderschmerz in den Unterbauch oder bestehende Schmerzen im rechten Unterbauch seien anamnestisch nicht angegeben worden. Es sei kein Fieber nachweisbar gewesen und es sei eine symptomorientierte, ordnungsgemäße Untersuchung erfolgt. Hierbei hätte sich ein weiches Abdomen mit einem epigastrischen Druckschmerz gezeigt. Es hätte keine Abwehrspannung – weder ubiquitär noch lokal – festgestellt werden können. Die Darmfunktion sei regelrecht gewesen. Insgesamt hätte ein akutes Abdomen klinisch ausgeschlossen werden können.

Auf eine symptomatische Therapie mit einem Analgetikum und einem Spasmolytikum hätte sich der Zustand so gravierend gebessert, dass eine Entlassung möglich gewesen sei. Es sei auf mögliche Komplikationen und ein unverzügliches Aufsuchen des Hausarztes zur klinischen und paraklinischen Verlaufskontrolle hingewiesen worden. Gegen diesen ärztlichen Rat hätte sich der Patient nicht am Folgetag, sondern erst nach sechs Tagen vorgestellt.

Gutachten

Die Behandlung in der Rettungsstelle der in Anspruch genommenen Klinik sei wegen mangelhafter Befunddokumentation nicht sach- und fachgerecht gewesen. Eine Ultraschalluntersuchung sei nicht erfolgt und aus einem hochkrankhaften und hochauffälligen Laborbefund habe man keine Konsequenz gezogen. Es sei kein verbindlicher Wiedervorstellungstermin vereinbart worden. Bei der erneuten Vorstellung wäre allerdings eine Diagnose zu erzwingen gewesen. Bei einer früheren Operation wäre mit überwiegender Wahrscheinlichkeit der Zeitablauf der Bauchfellentzündung mit den späteren Folgen der Sepsis und des langen Aufenthalts auf der Intensivstation deutlich verkürzt worden. Bei frühzeitiger Intervention wäre mit einem etwa zehntägigen stationären Aufenthalt ohne zusätzliche Operationen zu rechnen gewesen.

Allein fehlerbedingt eingetretene gesundheitliche Beeinträchtigungen seien die mehrfachen Operationen, ein schwerwiegender Verlauf auf der Intensivstation mit Beatmungspflicht und Entwicklung einer Critical-Illness-Polyneuropathie.

Entscheidung der Schlichtungsstelle

Die Schlichtungsstelle schloss sich dem Gutachten an. Sie folgt der gutachterlichen Analyse, die sich mit dem Begriff des akuten oder subakuten Abdomens detailliert auseinandersetzt. Die entsprechende Literatur untermauert die Bewertung, dass Behandlung und Diagnostik nicht zeitgerecht und ausreichend waren. Im vorliegenden Fall waren Mängel in der Befunderhebung festzustellen. Hier kommt es unter folgenden Voraussetzungen zu einer Umkehr der Beweislast zugunsten der Patientenseite:

Es wurden Befunde nicht erhoben, die dem Standard gemäß hätten erhoben werden müssen. Eine standardgerechte Anamneseerhebung, eine Ultraschalluntersuchung sowie ein chirurgisches Konsil zur Kontrolle hätten erfolgen müssen.

Bei standardgemäßer Untersuchung hätte man mit hinreichender Wahrscheinlichkeit einen abklärungs- bzw. behandlungsbedürftigen Befund erkannt. Der Bundesgerichtshof hat den Begriff „hinreichend“ nicht weiter definiert. Die Oberlandesgerichte definieren das Maß aber, unwidersprochen vom Bundesgerichtshof, als überwiegende Wahrscheinlichkeit, also mehr als 50 Prozent.

Aufgrund des weiteren Verlaufs kann davon ausgegangen werden, dass bei Durchführung dieser Maßnahmen man mit überwiegender Wahrscheinlichkeit die Diagnose einer akuten Appendizitis gestellt hätte.

Das Unterlassen der Behandlung in Kenntnis der richtigen Diagnose würde eine erhebliche Standardunterschreitung und damit einen schweren Behandlungsfehler darstellen.

In Anbetracht der Risiken eines Fortschreitens einer unbehandelten akuten Appendizitis würde das Unterlassen einer Operation einen schweren Behandlungsfehler darstellen.

Vor dem Hintergrund der Beweislastumkehr reicht es für den Kausalitätsnachweis aus, dass die zu unterstellende fundamentale Verkennung des zu erwartenden Befundes oder die Nichtreaktion darauf generell geeignet ist, einen Schaden der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen.

Gesundheitsschaden

Die Beweislastumkehr bezieht sich auf folgende Primär- und typischerweise damit verbundene sekundäre Gesundheitsschäden: Fortschreiten der Appendizitis bis zur Perforation, die mehrfachen Operationen, Aufenthalt auf der Intensivstation, Critical Illness-Polyneuropathie.

Fazit

Die Möglichkeit einerseits atypischer Manifestationsformen akuter Appendizitiden und andererseits die Tatsache, dass eine verzögerte Therapie häufig für schwerere Verlaufsformen verantwortlich ist, begründet die Notwendigkeit geeigneter Befunderhebungen für die Differentialdiagnose akuter abdomineller Beschwerden. Dies schließt die Erhebung von Laborparametern wie Leukozyten sowie des C-reaktiven Proteins und den abdominellen Ultraschall zur frühzeitigen Sicherung einer Operationsindikation und Vermeidung von Perforationen ein. Auch muss immer die Einbeziehung anderer Fachgebiete in Erwägung gezogen werden. Dies ist von Fachärzten der Inneren Medizin zu erwarten. Aber auch bei anderen Krankheitsbildern sollten alle Fachgebiete prüfen, ob die alleinige Übernahme der Diagnostik und Behandlung die korrekte Entscheidung darstellt. Dies vor allem vor dem Hintergrund der unzureichenden Befunderhebung und der damit verbundenen Beweislastumkehr zu Ungunsten der Arztseite.

Autoren:

Christine Wohlers, Rechtsanwältin

Juristin in der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover

Prof. Dr. med. Gerald Klose

Facharzt für Innere Medizin
Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover

Schaffartzik

Prof. Dr. med. Walter Schaffartzik

Facharzt für Anästhesiologie und Intensivmedizin sowie
Vorsitzender der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover