Inobservance of Highly Pathological Laboratory Findings Associated with Acute Abdominal Symptoms as Severe Medical Error
Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 02/2002
Kasuistik
Eine zum Behandlungszeitpunkt 53-jährige Frau war früher an einer akuten Entzündung des Wurmfortsatzes operiert worden. Es handelte sich seinerzeit um einen perityphlitischen Abszeß bei gangränöser Appendizitis. Bei dieser Situation wurde der Abszeßeiter entleert und die Appendix in mehreren Stücken aus der Abszeßhöhle entfernt. Aufgrund des Entzündungsbefundes hatte der Operateur seinerzeit nicht bemerkt, daß ein ca. 5 cm langer Rest der Appendix (laut Obduktionsbefund) im Körper verblieben war. Vier Jahre später kam es zu dem extrem seltenen Ereignis einer erneuten eitrigen Entzündung des Appendixstumpfes. An dieser Erkrankung verstarb die Patientin, da die wahre Ursache ihrer neuerlichen Bauchsymptomatik nicht erkannt worden war.
Nachdem laut Behandlungsdokumentation des Hausarztes erste Bauchsymptome mit erhöhten Körpertemperaturen bereits um den 15.10. aufgetreten waren, wandte sich die Patientin am 21.10. an den hausärztlichen Bereitschaftsdienst. Mit dem Notfallschein stellte sie sich am gleichen Tage in der Notfallambulanz eines Krankenhauses vor. Hier wurde sie von einem Facharzt für innere Medizin untersucht. Der Arzt veranlaßte eine Blut- und Urinuntersuchung. In dem Laborbefund fielen eine Leukozytose von 14,5 GPT/l und eine Erhöhung des CRP-Wertes auf 231 mg/l auf. Der Arzt stellte die Diagnose einer Blasenentzündung und entließ die Patientin wieder in hausärztliche Behandlung. Der Hausarzt verordnete am 22.10. Schmerzmittel und ein Antibiotikum. Über weitere Maßnahmen in der Zeit vom 22.10. bis 24.10. liegen in den Unterlagen keine Angaben vor.
Am 24.10. wurde die Patientin um 15.36 Uhr mit dem Rettungsdienst in die Notfallambulanz des gleichen Krankenhauses gebracht. Hier wurde sie um 15.45 Uhr erstmals ärztlich untersucht. Weitere klinische Untersuchungen und Behandlungsmaßnahmen erfolgten durch die Fachgebiete Chirurgie, Innere Medizin und Anästhesie. Unter den eingeleiteten Untersuchungsmaßnahmen geriet die Patientin in einen irreversiblen Schockzustand. Sie verstarb um 18.30 Uhr nach erfolglosen Reanimationsmaßnahmen. Die Obduktion ergab als Todesursache eine kotig-eitrige Peritonitis infolge einer Perforation des bei der Erstoperation belassenen Appendixstumpfes.
Die Angehörigen der Verstorbenen vermuteten, daß der tödliche Ausgang auf unzureichende ärztliche Maßnahmen, insbesondere schon bei der Erstvorstellung am 21.10. zurückzuführen war und wandten sich über ihren Rechtsanwalt an die Schlichtungsstelle.
In seiner Stellungnahme äußerte sich der Arzt, der die Patientin am 21.10. untersucht hatte sich in dem Sinne, daß eine lebensbedrohliche oder überwachungspflichtige Erkrankung nicht vorgelegen habe. Aus der Erhöhung der Leukozyten und des CRP-Wertes sei keine Indikation zur stationären Behandlung abzuleiten gewesen.
Der Gutachter kommt in Beantwortung der im Gutachtenauftrag gestellten Fragen zu folgenden Wertungen
- Die Untersuchung der Patientin am 21.10. erfolgte korrekt.
- Die uncharakteristische klinische Abdominalsymptomatik in Verbindung mit der Erhöhung der Leukozyten auf 15 GPT/l und des CRP-Wertes auf 231 mg/l hätte Anlaß zur stationären Aufnahme und zur weiterführenden Diagnostik sein müssen, dann wäre die Chance einer rechtzeitigen, erfolgreichen Operation gewahrt geblieben.
- Nach Eintreffen in der Rettungsstelle am 24.10. bestand keine Chance mehr für eine lebensrettende Operation. Daß die durchgeführten Untersuchungen nicht mehr zur Diagnose der Peritonitis führten, konnte angesichts des sich schnell entwickelnden Schockzustandes nicht mehr erwartet werden. Das septisch-toxische Organversagen war zu diesem Zeitpunkt bereits manifest. Eine Notoperation zwischen 15.45 und 17.10 Uhr hätte mit größter Wahrscheinlichkeit das Leben der Patientin nicht mehr gerettet.
- Am 21.10. lag vermutlich schon eine Peritonitis vor. Wäre diese nach vorausgehender adäquater Diagnostik rechtzeitig operiert worden, so wäre nach Literaturangaben mit einem Letalitätsrisiko von 15-30 % zu rechnen gewesen. Wegen der Höhe dieses Letalitätsrisikos könne nicht der Nachweis erbracht werden, daß bei stationärer Aufnahme am 21.10. und unverzüglicher Operation das Leben der Patientin mit ausreichender Wahrscheinlichkeit hätte gerettet werden können.
In der Beurteilung des Behandlungsfehlers: Unterlassung der sofortigen stationären Aufnahme und weiterführende Untersuchungen am 21.10., folgte die Schlichtungsstelle den Wertungen des Gutachters. Bezüglich der Beurteilung der Kausalität traf die Schlichtungsstelle jedoch eine weitergehende Entscheidung:
Ausweislich der vorliegenden Behandlungsunterlagen begannen die Bauchbeschwerden schon etwa am 15.10. Anläßlich hausärztlicher und gynäkologischer Untersuchungen wurden u. a. erhöhte Körpertemperatur und Durchfall festgestellt und der Verdacht eines Magendarminfektes geäußert. Diese Einzelheiten waren dem untersuchenden Internisten am 21.10. bekannt, wie aus seiner Untersuchungsdokumentation hervorgeht. Von einer akuten Abdominalsymptomatik war somit auszugehen. Diese Anamnese hätte der untersuchende Arzt am 21.10. bereits berücksichtigen müssen.
Die Leukozytose von 14,5 GPT/l und die Erhöhung des CRP auf 231 mg/l ließ sich nicht mit einer einfachen Zystitis erklären. Dieser Ansicht war der untersuchende Arzt offensichtlich auch selbst, indem er in seiner Stellungnahme zum Vorgang feststellt: „… insbesondere die Absolutwerte von CRP und Leukozytenzahl korrelieren nicht eindeutig mit dem Schweregrad der Ausdehnung einer Entzündung“. Weiter schreibt er: „Allein die Erhöhung dieser Laborwerte zwingt nicht zu einer stationären Behandlung. Sehr viele Krankheitsbilder mit einer entsprechenden Laborkonstellation können ausreichend ambulant behandelt werden.“
Die Schlichtungsstelle stellt hierzu fest
Vor dem Hintergrund einer als nicht abgeklärt zu betrachtenden akuten Baucherkrankung hätten die Leukozytose von 14,5 GPT pro Liter und die massive Erhöhung des CRP-Wertes auf 231 mg/l wegweisend für die weiteren Entscheidungen sein müssen. Diese Werte bedeuteten für sich allein eine Befundkonstellation, die auf einen schweren Entzündungsvorgang hinwies, der unter allen Umständen hätte unverzüglich abgeklärt werden müssen. Daß die Patientin, wie der untersuchende Arzt schreibt, „keinen schwerkranken Eindruck“ machte, kann hier nicht als Begründung für eine Weiterbehandlung durch den Hausarzt gelten. Allein der CRP-Wert war beweisend für das Vorliegen einer schweren Erkrankung. Es ist aus ärztlicher Sicht unverständlich, daß der Entzündungskonstellation der Laborbefunde in Verbindung mit einer Bauchsymptomatik nicht angemessen Rechnung getragen wurde. Hierin sieht die Schlichtungsstelle einen schweren Behandlungsfehler. Juristisch ergibt sich aus dem schweren Behandlungsfehler Beweislasterleichterung für die Patientenseite. Der Arzt hätte im vorliegenden Fall zu beweisen, daß auch bei rechtzeitiger weiterführender Diagnostik der tödliche Ausgang nicht hätte verhindert werden können. Dieser Beweis ist nicht zu führen. Der schwere Behandlungsfehler ist, auf dem Wege der Beweislastumkehr, als kausal für den Tod der Patientin anzusehen.
Die Schlichtungsstelle hielt Schadenersatzansprüche somit für begründet und empfahl die außergerichtliche Regulierung.