Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Nichterheben erforderlicher Diagnose- und Kontrollbefunde und Beweislastumkehr

Erschienen im Niedersächischen Ärzteblatt 10/2015

Kasuistik

Eine Patientin war langjährig bei einem Gynäkologen in Behandlung und klagte seit mehreren Jahren über Unterleibsschmerzen. Seit der ersten Konsultation 1982 fand sich fast regelmäßig der Eintrag „Dysmenorrhoen, Schmerzen bei der Menstruation“. Deswegen stellte sie sich auch bei ihrer Hausärztin vor. Diese trug im Sommer 2010 in ihrer Karteikarte ein: „Starke Bauchkrämpfe während der Regel. Endometriose? Ovarzysten funktionell? Gezielte Überweisung an die Gynäkologie“. Damit stellte sich die Patientin zwei Monate später zur Krebsvorsorge beim Gynäkologen vor. Hier wurden Unterbauchbeschwerden links dokumentiert: „Palpationsbefund oB, Vaginalsonographie oB.“ Auf die Überweisung von der Hausärztin mit der Frage nach einer Endometriose als Ursache der Beschwerden fand sich nichts. Der letzte Ultraschall des Gynäkologen stammte vom Juli 2011. Hier fand sich der Eintrag „Unterbauchschmerzen, Vaginalsono oB, Palp oB“. Die Patientin stellte sich im Dezember 2012 bei einer anderen Gynäkologin vor. Der Vaginalbefund war als unauffällig beschrieben. Anfang 2013 stellte sich die Patientin erneut bei dieser Frauenärztin vor. Aufgrund ihrer Beschwerden wurde sie von ihr wegen zyklusunabhängiger und zyklusabhängiger Unterbauchschmerzen und Dysmenorrhoe zur Pelviskopie an ein Krankenhaus überwiesen. Dort wurde im März 2013 ambulant eine diagnostische Laparoskopie durchgeführt. Es fand sich ein ausgeprägter Endometriose-Situs, die Gebärmutter war adenomyomatös verändert. Es fanden sich viele schwärzliche und weißliche Endometrioseherde im kleinen Becken. Das Rektum war teilweise mit der Uterushinterwand verwachsen. Ein Endometrioseherd saß oberflächlich auf dem Rektum auf. Beide Tuben und das Blasenperitoneum waren befallen, die Appendix war unauffällig. Die Endometriose wurde histologisch bestätigt. Im Mai 2013 wurde im Krankenhaus eine Laparoskopie mit kompletter Endometriosesanierung im Sinne von Entfernung der peritonealen Endometrioseherde vom Blasendach am rechten Ligamentum rotundum, der rechten Bauchwand, paratubar beidseits und eine Deperitonealisierung beider Beckenwände nach Utereolyse beidseits sowie eine Salpingektomie beidseits, superzervikale Hysterektomie unter Mitnahme beider Sacrouterinli-Gamenta nach Adhäsiolyse des Rektums und eine Sigmakeilexzision durchgeführt. In der Histologie wurden in allen Bereichen Endometrioseherde festgestellt.

Beanstandung der ärztlichen Maßnahmen

Die Patientin ist der Ansicht, dass die Endometrioseerkrankung von ihrem erstbehandelnden Gynäkologen hätte früher festgestellt werden müssen und dass bei früherer Therapie der operative Eingriff kleiner gewesen wäre. Der Gynäkologe entgegnet, die Patientin hätte bei den ambulanten Untersuchungsterminen ihre Beschwerden angegeben. Es habe jedoch während der Behandlungszeit von 1982 bis 2012 keine Hinweise auf eine Endometriose gegeben, deshalb habe auch keine Indikation für eine Laparoskopie bestanden.

Gutachten

Der beauftragte Gutachter, Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe, stellte fest, dass bereits seit 1982 Regelschmerzen (Dysmenorrhoe) diagnostiziert worden seien. Dieses Symptom sei jedoch nur sporadisch aufgetreten. Von der Hausärztin sei dann im Sommer 2010 der Verdacht auf eine Endometriose geäußert worden. Zur Abklärung von Unterbauchbeschwerden und Regelschmerzen gehöre in der Gynäkologie die Differenzialdiagnose der Endometriose. Die Verdachtsdiagnose hätte differenziert abklärt werden müssen. Die Diagnose hätte somit mit „hoher Wahrscheinlichkeit“ über zweieinhalb Jahre früher gestellt werden können. Insofern sei die Behandlung des erstbehandelnden Gynäkologen nicht regelrecht gewesen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sei bei früherer Diagnosestellung die Endometriose noch nicht derart ausgeprägt gewesen. Jedoch wäre eine operative Sanierung einschließlich Entfernung der Gebärmutter wahrscheinlich auch zum früheren Zeitpunkt durchgeführt worden.

Entscheidung der Schlichtungsstelle

Die Schlichtungsstelle hat sich dem Gutachten angeschlossen. Aufgrund der geäußerten Beschwerden und der Überweisung mit der Frage nach einer Endometriose wäre seitens des erstbehandelnden Gynäkologen bereits im September 2010 eine Abklärung durch eine diagnostische Laparoskopie erforderlich gewesen. Deshalb sind Mängel in der Befunderhebung festzustellen. Diese führen zu folgenden Veränderungen in der Beweislastverteilung zwischen Patientin und Arzt. Eine fehlerhafte Unterlassung der medizinisch gebotenen Befunderhebung führt dann zu einer Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Kausalität des Behandlungsfehlers für den eingetretenen Schaden, wenn sich bei der gebotenen Befunderhebung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein reaktionspflichtiges positives Ergebnis gezeigt hätte und wenn sich die Verkennung dieses Befunds als fundamental oder die Nichtreaktion hierauf als grob fehlerhaft darstellen würde (vergleiche BGH NJW 2004, 1871 ff).

Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt: Bei einer diagnostischen Laparoskopie im September 2010 wäre die Endometriose bereits zu diesem Zeitpunkt diagnostiziert und therapiert worden. Es wäre ein medikamentöser Therapieversuch mit Danazol oder LHRH-Antagonisten (Hemmer der Hypophysen-Ovar-Regulation) unternommen worden. Bei erfolgloser medikamentöser Therapie wäre auch eine Gebärmutterentfernung durchgeführt worden. Keine Therapie einzuleiten, wäre grob fehlerhaft gewesen. Die Ausbreitung der Endometriose wäre zu diesem Zeitpunkt noch nicht so ausgedehnt gewesen wie 2013.

Vor dem Hintergrund der Beweislastumkehr reicht es für den Kausalitätsnachweis aus, dass die zu unterstellende fundamentale Verkennung des zu erwartenden Befunds oder die Nichtreaktion darauf generell geeignet ist, einen Schaden der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen.

Gesundheitsschaden

Bei korrektem Vorgehen wäre nach ärztlicher Erfahrung mit folgendem Verlauf zu rechnen gewesen: Die Patientin wäre von ihrem Frauenarzt im September 2010 zu einer diagnostischen Laparoskopie überwiesen worden. Dabei hätte man die Endometriose der Gebärmutter und der Eileiter fest-gestellt. Es wäre ein medikamentöser Therapieversuch unternommen worden. Bei ausbleibendem Therapieerfolg wären die Gebärmutter entfernt und eventuell noch Eileiter und kleine Herde im kleinen Becken verschorft oder mitentfernt worden. Die Therapie wäre dann nicht so umfangreich gewesen. Die superzervikale Hysterektomie wegen einer Adenomyosis uteri (Endometriose der Gebärmutter) wäre in gleicher Weise durchgeführt worden. Im Bauchfell des kleinen Beckens wären die Endometrioseherde sicherlich geringer ausgeprägt und deshalb eine ausgedehnte Resektion des Bauchfells nicht erforderlich gewesen. Ebenso wäre mit überwiegender Wahrscheinlichkeit noch keine Sigmaendometriose vorhanden gewesen, die eine Keilexzision aus dem Sigma erforderte.

Durch das fehlerhafte Vorgehen hat die Patientin zweieinhalb Jahre länger Bauchschmerzen und Dysmenorrhoen gehabt und die inzwischen weiter ausgebreiteten Endometrioseherde mussten umfangreich reseziert werden. Dadurch war der Umfang der Operation größer, als wenn sie schon im Jahre 2010 durchgeführt worden wäre. Die Sigmakeilexzision ist auf den Fehler zurückzuführen.

Fazit

Mitteilungen gefährlicher Verdachtsdiagnosen, hier der überweisenden Hausärztin, sind sorgfältig zu prüfen und im Rahmen der Differenzialdiagnostik auszuschließen.

Autoren:

HR

Prof. Dr. med. H. Riedel

Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe
Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover

Kerstin Kols, Ass. jur.