Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Postoperative Hyperglykämie infolge unzureichender Kontrolle eines insulinpflichtigen Diabetes mellitus

Post-operative Hyperglycemia Resulting from Insufficient Monitoring of Insulin-dependent Diabetes Mellitus

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 03/2001

Kasuistik

Eine zum Behandlungszeitpunkt 57jährige Patientin litt seit 5 Jahren an einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus. Aus den Behandlungsunterlagen geht hervor, daß trotz wiederholter klinischer Behandlungen die Insulineinstellung nicht zu stabilisieren war und die täglichen Blutzuckerwerte (BZ-Werte) starken Schwankungen unterworfen blieben. Die Patientin führte daher eine konsequente Eigenkontrolle des Diabetes mit täglich 4 – 5maligen Bestimmungen der BZ-Werte und Selbstanpassung der Insulindosierung entsprechend den aktuellen BZ-Werten durch.

1997 erfolgte in einer Chirurgischen Klinik die laparoskopische Appendektomie wegen einer chronischen Appendizitis. Der Eingriff und die postoperative Wundheilung verliefen unkompliziert. Die Kontrolle der BZ-Werte erfolgte während der stationären Behandlung teils durch die Patientin selbst, teils durch das Kliniklabor. In der Nacht vom 1. zum 2. postoperativen Tag verschlechterte sich das Befinden der Patientin. Eine Kontrolle der BZ-Werte fand in dieser Nacht nicht statt. Am Morgen des 2. postoperativen Tages wurde ein BZ-Wert von über 500 mg% festgestellt. Die Patientin wurde daraufhin auf die Intensivstation übernommen. Unter entsprechender Insulinmedikation gingen die BZ-Werte im Laufe des 2. und 3. postoperativen Tages wieder auf das gewohnte Niveau zurück. Am 4. postoperativen Tag konnte die Patientin wieder auf die Allgemeinchirurgische Station zurückverlegt werden. Der weiter Verlauf war dann auch bezüglich der diabetischen Stoffwechsellage komplikationslos. Die Patientin konnte am 7. postoperativen Tag aus der stationären Behandlung entlassen werden.

Die Patientin vermutete, daß die kritische Situation am 1. und 2. postoperativen Tag durch unsachgemäße Kontrolle des Diabetes seitens des Klinikpersonals verschuldet worden war und leitete hieraus Schadenersatzansprüche ab.

Der verantwortliche Arzt nahm zu dem Vorwurf der unzureichenden Kontrolle des Diabetes Stellung. Er berief sich auf eine mit der Patientin getroffene Absprache bezüglich der Selbstkontrolle des Diabetes. Über diese Absprache liegt kein Vermerk in der Behandlungsdokumentation vor. Die in der Nacht vom 1. zum 2. postoperativen Tag aufgetretene „Schocksituation“ sei sofort richtig gedeutet und die Verlegung auf die Intensivstation angeordnet worden. Hier sei die Stoffwechselsituation in kurzer Zeit wieder normalisiert worden.

In dem von der Schlichtungsstelle angeforderten chirurgischen Gutachten wird der Sachverhalt zwar korrekt dargestellt, ein fehlerhaftes ärztliches Handeln in bezug auf die Diabeteskontrolle wird vom Gutachter jedoch nicht festgestellt. Der die Patientin vertretende Rechtsanwalt erhob Einwände gegen die Aussage des Gutachters: Der hypoglykämische Zustand am 1. postoperativen Tag sei allein darauf zurückzuführen, daß über einen längeren Zeitraum keine Kontrolle der BZ-Werte durchgeführt worden sei. Dies sei eine fehlerhafte Unterlassung.

Unter Berücksichtigung der Darstellung des medizinischen Sachverhaltes im chirurgischen Gutachten und der dagegen erhobenen Einwände kam die Schlichtungsstelle zu folgender Einschätzung

Die bei der Patientin vorliegende instabile Insulineinstellung des Diabetes mußte den behandelnden Ärzten bekannt sein. Ein unsicher einstellbarer Diabetes der vorliegenden Art neigt grundsätzlich zur „Entgleisung“ sowohl in Richtung einer Überzuckerung (Hyperglykämie) mit der Gefahr des sog. ketoazidotischen Komas als auch in Richtung einer Unterzuckerung (Hypoglykämie) mit der Gefahr des hypoglykämischen Schocks. Ein instabiler Diabetes verlangt eine fortlaufende Kontrolle des BZ-Wertes, in der Regel 3 – 4 mal täglich und häufig, wie auch im Falle dieser Patientin, eine den aktuellen BZ-Werten angepaßte jeweilige Insulindosierung. Es ist bekannt, daß die Gefahr einer Entgleisung der diabetischen Stoffwechsellage bei instabil eingestelltem Diabetes besonders hoch bei Auftreten von besonderen Belastungen ist, wie im Falle akuter Entzündungsvorgänge, schwerer Verletzungen und im Besonderen auch nach Operationen . Eine engmaschige Kontrolle der BZ-Werte und deren Beurteilung durch die Ärzte waren im Falle der Patientin in der peri- und postoperativen Phase daher zwingend geboten.

Am Operationstag wurden die BZ-Werte 4 mal zu den üblichen Zeitpunkten bestimmt. Alle Werte lagen deutlich zu hoch, jedoch wegen der bekannten Schwierigkeiten in dem von der Patientin gewohnten Bereich. Am ersten Tag nach der Operation wurde lt. Kurveneintragung der BZ-Wert um 12.00 Uhr letztmalig bestimmt. Er lag mit 231 mg% im Erwartungsbereich. Im Laufe der Nacht vom 1. zum 2. postoperativen Tag traten klinische Warnsymptome auf, die nach Schilderung der Patientin in Übelkeit, Erbrechen, Bewußtseinstrübung und Kurzatmigkeit bestanden. Auf diese Symptome wurde in der Nacht nicht reagiert. Der erste am 2. postoperativen Tag um 7.40 Uhr bestimmte BZ-Wert lag über 500 mg% und wies auf ein drohendes ketoazidotisches Koma hin.

Aus Sicht der Schlichtungsstelle ist unzweifelhaft, daß die gebotene ärztliche Kontrolle der diabetischen Stoffwechsellage in der Zeit vom 1. postoperativen Tag 12.00 Uhr bis zum 2. postoperativen Tag 7.40 Uhr unterlassen worden war. Für die Beurteilung ist völlig unerheblich, ob die BZ-Werte von der Patientin selbst oder vom Kliniklabor bestimmt wurden oder entsprechend einer getroffenen Absprache hätten bestimmt werden sollen. Entscheidend ist allein, daß die Ärzte sich über die aktuelle diabetische Stoffwechselsituation nicht informiert haben. Auch hat die Nachtschwester auf die offensichtlich vorhandenen Warnsymptome nicht reagiert.

Die Unterlassung der Beurteilung der aktuellen diabetischen Stoffwechsellage über die regelmäßigen BZ-Kontrollen für die Zeit vom 1. postoperativen Tag 12.00 Uhr bis zum 2. postoperativen Tag 7.40 Uhr, stellt einen vermeidbaren Behandlungsfehler dar.

Folge des Behandlungsfehlers waren eine bedrohliche Hyperglykämie, die zu einem ketoazidotischen Koma hätte führen können. Es ist mit ausreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß die planmäßigen BZ-Kontrollen am 1. postoperativen Tag am Abend bereits einen nicht mehr tolerierbaren erhöhten Wert ergeben hätten. Hierfür sprechen der stark erhöhte Wert von über 500 mg% 12 Stunden später und die abends einsetzende Warnsymptomatik. Hätte am Abend des 1. postoperativen Tages die regelrechte Überprüfung und die Korrektur der entgleisenden diabetischen Stoffwechsellage eingesetzt, so wären der Patientin die geschilderten Beschwerden sowie die über 2 Tage andauernde intensivmedizinische Behandlung mit großer Wahrscheinlichkeit erspart geblieben.

Aus den Folgen dieses Behandlungsfehlers ergibt sich ein Anspruch auf Schmerzensgeld. Es handelte sich um eine relativ kurzfristige Hyperglykämie. Folgeschäden im Sinne einer Verschlimmerung des Diabetes oder der diabetischen Folgekrankheiten sind unwahrscheinlich und wären nicht beweisbar.

Autoren:

HV

Prof. Dr. med. Heinrich Vinz

Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover