Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Postoperativer Kreislaufstillstand im Aufwachraum durch fehlerhaft durchgeführte Sauerstoffzufuhr

Postoperative Circulatory Arrest in the Recovery Room Resulting from Incorrect Oxygen Administration

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 01/2002

Kasuistik

Der Patient war mit dem von ihm gesteuerten Personenkraftwagen gegen eine Mauer geprallt. Dabei zog er sich ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma, Gesichtsschädelverletzungen, eine Jochbeinfraktur links, eine Schlüsselbeinfraktur rechts, ein stumpfes Thoraxtrauma mit rechtsseitigem Pneumothorax, eine offene Oberschenkelstückfraktur links und eine Fersenbeinfraktur links zu. Der Patient wurde am Unfallort notärztlich versorgt, tracheal intubiert und beatmet in ein Krankenhaus gebracht.

Der Pneumothorax zeigte eine maximale Ausdehnung ventral von 3 cm. Auf die Anlage einer Thoraxdrainage wurde verzichtet. Unmittelbar nach Abschluß der Diagnostik wurde die Oberschenkelstückfraktur mit einem Fixateur externe versorgt (erste Operation).

Eine Woche nach dem Unfall wurden die Gesichtsschädelverletzungen und die Oberschenkelfraktur (Nagel; zweite Operation), zweieinhalb Wochen nach dem Unfall die linksseitige Fersenbeinfraktur und die rechtsseitige Schlüsselbeinfraktur operativ versorgt (dritte Operation). Für die jeweils mehrstündigen Eingriffe erhielt der Patient Narkosen, die komplikations-los verliefen. Bis zu der Einleitung der Narkose für die dritte Operation war der Patient vollständig bewußtseinsklar.

Nach dem Abschluß der dritten Operation atmete der Patient suffizient spontan, erwachte jedoch nicht aus der Narkose. Der bei der Einleitung der Narkose gelegte Trachealtubus wurde belassen und der Patient spontan atmend im Aufwachraum überwacht (EKG, Blutdruck, partielle Sauerstoffsättigung des Hämoglobins). Über eine abgeschnittene Sauerstoffbrille, die in den Tubus eingeführt worden war, erhielt der Patient einen Sauerstofffluß in Höhe von drei Litern in der Minute. Die abgeschnittene Sauerstoffbrille rutschte zunächst mehrfach aus dem Tubus heraus.

Etwa zehn Minuten nach dem Eintreffen des Patienten in dem Aufwachraum wurde ein Anästhesist dringend zu dem Patienten gerufen. Dem Arzt stellte sich folgende Situation dar: Schnappatmung, beidseitig weite Pupillen, periphere Pulse nicht palpabel, Kammerflattern. Außerdem fiel bei dem Patienten ein erweiterter Halsumfang auf, der auf ein Hautemphysem zurückzuführen war. Der Arzt stellte fest, daß die abgeschnittene Sauerstoffbrille die Tubusöffnung verlegt hatte und entfernte sie sofort. Der Patient konnte reanimiert werden.

Etwa 15 Minuten nach dem Kreislaufstillstand wurde der Patient in kardiopulmonal stabilem Zustand zur weiteren Behandlung in die Intensivstation verlegt. Das Hautemphysem war zum Zeitpunkt der Aufnahme in die Intensivstation – unter maschineller Beatmung! – deutlich rückläufig. Röntgenologisch wurde ein ausgedehntes Mediastinalemphysem mit retroperitonealer und rechtsthorakaler Ausbreitung beschrieben. Die kranielle Computertomographie, die etwa drei Stunden nach dem Kreislaufstillstand durchgeführt wurde, ergab hinsichtlich des Gehirns einen weitgehend unauffälligen Befund. Bei der Tracheo-bronchoskopie konnte eine Verletzung der Atemwege nicht festgestellt werden. Zur Entlastung des Emphysems wurde eine kollare Mediastinotomie durchgeführt.

Zwei Tage nach dem Ereignis stellte sich in der kraniellen Computertomographie ein diffuses Hirnödem dar. Der Patient erhielt eine intrakranielle Drucksonde. Der Hirndruck war mit 30 bis 35 mm Hg anhaltend erhöht. Unter antiödematöser Therapie bildete sich das Hirnödem zurück und die Drucksonde konnte knapp eine Woche nach dem Kreislaufstillstand entfernt werden.

Etwa zehn Tage nach dem Kreislaufstillstand war der Patient auf Anruf erweckbar und wurde zunehmend kooperativ. Der Patient wurde vier Wochen nach dem Unfall in eine Rehabilitationseinrichtung verlegt.

Zehn Monate nach dem Unfall wurde der Patient aus der Rehabilitation nach Hause entlassen. Zu diesem Zeitpunkt bestanden Gesichtsfeldausfälle beidseitig, Parästhesien im Bereich beider Hände und eine Schwäche im linken Bein.

Der Haftpflichtversicherer führte in seiner Stellungnahme an, daß das Haut- und Mediastinalemphysem als Folge eines bei dem Unfall beziehungsweise während der Beatmung erlittenen Barotraumas aufgetreten sei. Zur Unterstützung seiner Auffassung führte der Haftpflichtversicherer an, daß auf Röntgenaufnahmen, die wenige Tage nach dem Unfall angefertigt worden waren, rechts parakardial eine Linie zu erkennen war, die einem Mediastinalemphysem zuzuordnen wäre.

Darüber hinaus schloß der Haftpflichtversicherer einen Narkoseüberhang nach der dritten Operation deswegen aus, weil die Narkosen für die zweite und dritte Operation hinsichtlich ihrer Länge und Tiefe identisch gewesen seien. Das Nichterwachen des Patienten aus der Narkose führte der Haftpflichtversicherer auf einen intraoperativen Sauerstoffmangel des Patienten zurück (dritte Operation). Der Sauerstoffmangel wiederum sei Folge des Barotraumas, das der Patient im zeitlichen Zusammenhang mit dem Unfall bzw. mit der Beatmung erlitten hatte. Nach Auffassung des Haftpflichtversicherers habe das Haut- und Mediastinalemphysem bereits vor der Verlegung des Patienten in den Aufwachraum bestanden.

Die Schlichtungsstelle hatte die Behandlung des Patienten anästhesiologisch und radiologisch begutachten lassen.

Begutachtung und Entscheidung der Schlichtungsstelle

Der Pneumothorax, der bereits auf der ersten Röntgenaufnahme nach der Aufnahme des Patienten in das Krankenhaus festgestellt worden war, war durch das bei dem Unfall erlittene Thoraxtrauma verursacht worden. Auf einer drei Tage nach dem Unfall durchgeführten Röntgenaufnahme des Thorax stellte sich rechts parakardial eine Linie dar, die der radiologische Gutachter dem Pneumothorax und nicht einem Mediastinalemphysem zuordnete. Eine Luftansammlung im Mediastinum erkannte der Gutachter erstmalig auf der Röntgenaufnahme des Thorax, die unmittelbar nach der Reanimation des Patienten angefertigt wurde.

Nach der Feststellung des zeitlichen Auftretens des Barotraumas war zu klären, warum der Patient nach der dritten Operation nicht adäquat aus der Narkose erwachte. Gutachterseitig wurden die zweite und dritte Operation hinsichtlich der Länge der Narkosen miteinander verglichen. Der Patient war nach der zweiten Operation völlig unauffällig aus der Narkose erwacht. Der anästhesiologische Gutachter stellte fest, daß die Narkosedauer bei beiden Operationen nahezu gleichlang war. Die Narkosetiefe konnte gutachterseitig nur anhand der verwendeten Anästhetika und ihrer Dosierung beurteilt und daher nur vermutet werden, daß sie an beiden Tagen zumindest ähnlich war. Gutachterseitig konnte aber als der entscheidende Unterschied zwischen beiden Narkosen herausgestellt werden, daß die Zeit, die dem Patienten nach der Beendigung der Zufuhr der Anästhetika zur Wiedererlangung des Bewußtseins zur Verfügung stand, nach Abschluß der dritten Operation um 25 Minuten kürzer war als nach der zweiten Operation. Gutachterseitig wurde die Bewußtlosigkeit nach der dritten Operation auf einen Narkoseüberhang zurückgeführt. Für einen eventuell intraoperativ erlittenen Sauerstoffmangel, so wie es der Haftpflichtversicherer vermutet hatte, fand sich in dem sorgfältig dokumentierten Narkoseverlauf kein Hinweis. So befand sich u. a. die pulsoxymetrisch gemessene Sauerstoffsättigung des Hämoglobins jederzeit in einem vollständig normalen Bereich. Ein intraoperativer Sauerstoffmangel wurde vom Gutachter abschließend verneint.

Schließlich war gutachterseitig die Ursache des Kreislaufstillstandes des Patienten nach der dritten Operation im Aufwachraum zu klären. Im Aufwachraum wurde dem Patienten eine abgeschnittene Sauerstoffbrille in den Tubus gelegt. Die im Aufwachraum tätige Krankenschwester hatte mehrfach ein Herausrutschen dieser abgeschnittenen Sauerstoffbrille aus dem Tubus bemerkt.

Im anästhesiologischen Gutachten wurde ausgeführt, daß der Druck, der im Innern der Lunge notwendig ist, um die abgeschnittene Sauerstoffbrille aus dem Tubus herauszudrücken, auch von der in den Tubus eingeführten Schlauchlänge abhängt. In Modellversuchen, die in Zusammenhang mit der Erstellung des anästhesiologischen Gutachtens durchgeführt wurden, wurde festgestellt, daß ein retrograder Druck von 50 cm H2O den Schlauch aus dem Tubus drückt, wenn die abgeschnittene Sauerstoffbrille in einer Länge von 1,5 cm in den Tubus eingeführt wurde. Wurde die abgeschnittene Sauerstoffbrille 3,0 cm in den Tubus eingeführt, so erhöhte sich dieser Druck auf über 80 cm H2O. In der Literatur wird davon ausgegangen, daß der für die Entstehung eines Barotrauma kritische Druck beim Menschen bei etwa 50 cm H2O liegt. Dieser kritische Druck – dessen individuelle Höhe nicht festzustellen ist – wurde bei dem Patienten erreicht bzw. überschritten.

Wie konnte es zu einer Druckerhöhung in der Lunge gekommen sein? Bei einem kontinuierlich in die Lunge einströmenden Sauerstofffluß – bei dem Patienten war ein Sauerstofffluß von drei Litern in der Minute gewählt worden – muß sich der Druck im Innern der Lunge dann erhöhen, wenn der Abstrom behindert ist. Diese Situation lag im vorliegenden Fall vor. Der in den Aufwachraum gerufene Anästhesist hatte festgestellt, daß die abgeschnittene Sauerstoffbrille die Tubusöffnung verlegt hatte.

Es ließ sich gutachterseitig nicht feststellen, warum die abgeschnittene Sauerstoffbrille – nachdem sie einige Male herausgerutscht war – nicht mehr herausrutschte und das Lumen des Tubus so kritisch einengte, daß es zu einem Barotrauma mit nachfolgendem Kreislaufstillstand kam. Ursächlich könnte eine Fixierung am Tubus bzw. ein tieferes Hineinschieben der abgeschnittenen Sauerstoffbrille in den Tubus gewesen sein.

Nach Auffassung des anästhesiologischen Gutachters war eine postoperative Sauerstofftherapie zur Prophylaxe einer arteriellen Hypoxie indiziert. Diese Maßnahme entspricht einem im Aufwachraum üblichen Vorgehen. Nicht indiziert war es jedoch, die Sauerstofftherapie über eine abgeschnittene Sauerstoffbrille durchzuführen, die in den Tubus eingeführt worden war. Eine abgeschnittene Sauerstoffbrille stellt kein Instrumentarium dar, das für eine derartige Maßnahme vorgesehen ist (Medizinproduktegesetz). Dieses Vorgehen wurde gutachterseitig als Behandlungsfehler gewertet, der zu einem Barotrauma mit nachfolgendem Kreislaufstillstand des Patienten geführt hatte.

Die Schlichtungsstelle schloß sich der Auffassung der Gutachter an. Die Annahme des Haftpflichtversicherers, daß die rechts parakardial zu erkennende Linie, die bereits in den ersten Behandlungstagen auf den Röntgenbildern zu erkennen gewesen und Ausdruck eines Mediastinalemphysems gewesen sei, konnte vom radiologischen Gutachter nicht bestätigt werden. Vielmehr stellte er fest, daß diese Linie dem unmittelbar nach dem Unfall festgestellten Pneumothorax zuzuordnen war. Diese Feststellung widersprach der Annahme des Haftpflichtversicherers, daß das Mediastinalemphysem Folge des Unfalls bzw. der im Behandlungsverlauf notwendigen maschinellen Beatmung gewesen sei. Das Nichterwachen aus der Narkose nach der dritten Operation ist nach Ansicht der Schlichtungsstelle auf einen Narkoseüberhang und nicht auf einen intraoperativen Sauerstoffmangel zurückzuführen. Der Narkoseüberhang ist nicht als Behandlungsfehler zu bewerten.

Die Schlichtungsstelle gelangte zu der Auffassung, daß eine, in der Tracheobronchoskopie nicht erkannte Verletzung der Atemwege durch die fehlerhafte Anwendung der abgeschnittenen Sauerstoffbrille eingetreten war. Unter Spontanatmung sind die intrathorakalen Drücke niedriger als unter maschineller Beatmung, bei der ein von außen auf die Lunge einwirkender Überdruck angewendet werden muß, um einen Atemgasfluß zu erzeugen. Das Haut- und Mediastinal-emphysem trat aber nicht während der Phasen auf, in denen der Patient beatmet wurde, sondern in einer Phase, in der der Patient spontan atmete (Aufwachraum), aber sich durch den kontinuierlichen Sauerstofffluß bei fehlendem Abstrom – Tubusverlegung durch die abgeschnittene Sauerstoffbrille – ein Überdruck in der Lunge bildete. Bei dem Haut- und Mediastinalemphysem handelte es sich nicht um die Folge eines im Zusammenhang mit dem Unfall bzw. der Beatmung des Patienten erlittenen Barotraumas des Patienten. Vielmehr ist diese Komplikation auf eine im Aufwachraum fehlerhaft durchgeführte Sauerstofftherapie unter Spontanatmung des Patienten zurückzuführen und verursachte den Kreislaufstillstand des Patienten.

Im vorliegenden Fall hielt die Schlichtungsstelle Schadensersatzansprüche des Patienten für begründet und empfahl, die Frage einer außergerichtlichen Regulierung zu prüfen.

Fazit

Im vorliegenden Fall ist der Patient durch eine unsachgemäße Benutzung einer Sauerstoffbrille in eine lebensbedrohliche Situation geraten. Durch diesen schweren Behandlungsfehler wurde die stationäre Behandlungsdauer verlängert. Darüber hinaus konnte der Patient nach Abschluß der Krankenhausbehandlung nicht unmittelbar seine Berufsausbildung fortsetzen. Vielmehr erforderte sein Gesundheitszustand eine stufenweise Wiedereingliederung in seine Ausbildung.

Autoren:

Schaffartzik

Prof. Dr. med. Walter Schaffartzik

Facharzt für Anästhesiologie und Intensivmedizin sowie
Vorsitzender der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover