Aus der Praxis der norddeutschen Schlichtungsstelle

Primäre onkologische Radikaloperation bei histologisch nicht bestätigtem Malignomverdacht

Primary Radical Oncological Resection without Histologically-proven Malignancy

Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 1/2011

Kasuistik

Eine 56-jährige Frau stellte sich bei ihrem Hausarzt mit einer nach eigenen Angaben seit fünf bis zehn Jahren bestehenden, bislang unbehandelten Geschwulst an der Rückseite des Oberschenkels mit Einbeziehung der unteren Gesäßregion vor. Seit etwa einem Jahr bestünde vermehrte Wachstumstendenz. Das daraufhin angefertigte MRT wurde wie folgt beurteilt: „Darstellung einer soliden, inhomogenen Raumforderung intramuskulär in oben beschriebener Lokalisation mit möglicher Einblutung ohne Hinweis auf Infiltration in die Nachbarschaft. Differenzialdiagnostisch muss hier sowohl ein malignes Histiozytom als auch an ein Liposarkom oder an ein Leiomyosarkom gedacht werden.“

Aufgrund dieses Befundes erfolgte die Aufnahme in einer Chirurgischen Klinik. Der Chirurg führte die Entfernung des Tumors primär unter onkochirurgischen Kautelen aus. Der Tumor wurde somit unter Mitnahme umgebenden gesunden Weichteilgewebes („Sicherheitsabstand“) entfernt. Hierdurch entstand ein Weichteil-, insbesondere Muskeldefekt. Der Heilverlauf war ungestört. Funktionelle Defekte traten nicht auf. Die histologische Untersuchung des Tumors ergab überraschend ein „acht Zentimeter großes, gekapseltes, in Organisation befindliches, im Gesunden entferntes Hämatom (alter Bluterguss, kein Lipom!).“

Die Patientin beanstandete, dass der Tumor ohne vorherige histologische Klärung primär unter Mitnahme gesunden Weichteilgewebes, entfernt wurde. Durch die unnötige Opferung von Weichteilgewebe sei eine tiefe auffällige Narbe entstanden, die sie unter anderem daran hindert, sich öffentlich zu zeigen. Auch habe sie die ihr ursprünglich angetragene Diagnose eines bösartigen Prozesses psychisch stark belastet.

Der verantwortliche Chirurg nahm wie folgt zu dem Vorwurf Stellung: Aufgrund des MRT-Befundes wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem bösartigen Prozess auszugehen gewesen Die Operationsplanung habe diesem Umstand Rechnung tragen müssen Die Operation sei daher konsequent unter onkochirurgischen Kriterien ausgeführt worden.

Die Schlichtungsstelle forderte ein chirurgisches und ein diagnostisch-radiologisches Gutachten an.

Gutachten

Im chirurgischen Gutachten wird die Indikationsstellung zur primären Tumorradikaloperation eingehend erörtert. Der MRT-Befund habe wegen der inhomogenen Strukturen im Tumorbereich für das Vorliegen eines bösartigen Prozesses gesprochen. Inwieweit bei derartigen Befundkonstellationen, das heißt einerseits klinisch gutartiger, andererseits radiologisch bösartiger Befund, eine präoperative oder intraoperative histologische Klärung zu fordern ist, sei generell nicht zu beantworten und werde auch zur Zeit kontrovers diskutiert. Es sei zu bedenken, dass durch die Entnahme von Gewebsproben mit unterschiedlichen Methoden eine Tumorzellverschleppung eintreten kann, die dann über Metastasenbildung auch bei radikaler Entfernung des Primärtumors zum Fortschreiten der Tumorkrankheit führen kann. Die Prognose vergleichbarer Tumorerkrankungen sei im Wesentlichen durch die Radikalität des Primäreingriffes bestimmt.

Im hier zu beurteilenden Fall habe sich der Operateur im Hinblick auf den diagnostisch zunächst entscheidenden MRT-Befund zur primären Tumorradikaloperation entschlossen. Dies sei unter den gegebenen Umständen nicht fehlerhaft gewesen.

Um der Frage nachzugehen, inwieweit möglicherweise eine fehlerhafte radiologische Befunderhebung der MRT-Bildgebung Anlass zur retrospektiv unnötigen Tumorradikaloperation war, wurde ein radiologisches Zusatzgutachten angefordert. In diesem Gutachten wird zunächst bestätigt, dass die Befundinterpretation des MRT im Sinne eines möglichen malignen Prozesses begründet war. Der klinische Untersuchungsbefund eines Lipoms wurde durch den MRT-Befund ausgeschlossen. Im Hinblick auf die präoperative histologische Sicherung der Diagnose stellt der Gutachter fest: „Die einzig theoretisch sinnvolle Art der Probengewinnung wäre eine Operation mit Biopsie gewesen, bei der eine größere Tumormenge hätte entnommen werden müssen. Dies beinhalte jedoch beim Vorliegen eines malignen Prozesses die nicht unerhebliche Gefahr der Tumorzellverschleppung in noch gesundes Gewebe im Zugangsweg.“

Die Entscheidung der Schlichtungsstelle

Die Schlichtungsstelle gelangte in Würdigung der medizinischen Dokumentation, der Stellungnahmen und der gutachterlichen Erwägungen zu folgender Bewertung des Sachverhaltes:
Der Verzicht auf die präoperative histologische Klärung war im hier zu beurteilenden Fall kein Behandlungsfehler. Durch den völlig unerwarteten histologischen Untersuchungsbefund eines alten, in Organisation befindlichen Hämatoms wurde sowohl die klinische Diagnose eines gutartigen Lipoms als auch die MRT-Diagnose eines bösartigen Weichteiltumors widerlegt. Die reale Diagnose des alten Hämatoms konnte bis zur histologischen Klärung allein schon wegen des Fehlens jeglicher anamnestischer Hinweise, nicht in Erwägung gezogen werden. Wie in den Gutachten beschrieben, war die prä- oder intraoperative Gewebsprobeentnahme grundsätzlich mit dem Risiko der Tumorzellverschleppung belastet. Hätte man unter der Operation den Tumor eröffnet und unter Umständen aus mehreren Stellen des Tumors Gewebsproben entnommen, so hätten diese alle Befunde ergeben, die zwar nicht tumorbeweisend, aber mit Randzonen eines Tumors vereinbar gewesen wären. Man hätte angesichts des hochverdächtigen MRT-Befundes damit rechnen müssen, dass der histologische Befund falsch-negativ war. Somit hat man den für die Patientin sichersten Weg der primären radikalen Tumorentfernung gewählt. Indikationsstellung und Durchführung der radikalen Tumorentfernung waren aus der Sicht ex ante begründet. Aus der Sicht ex post konnte aus der unnötigen Entfernung des tumorumgebenden Weichteilgewebes nicht auf einen Fehler bei der Planung und Durchführung der „Radikaloperation“ geschlossen werden.

Schadenersatzansprüche ließen sich vor diesem Hintergrund nicht begründen, so dass keine außergerichtliche Klärung empfohlen werden konnte.

Autoren:

HV

Prof. Dr. med. Heinrich Vinz

Ärztliches Mitglied der Schlichtungsstelle
Hans-Böckler-Allee 3
30173 Hannover