Erschienen im Niedersächsischen Ärzteblatt 3/2000
Einleitung
Die risikoreichste Phase im Leben eines Menschen ist auch heute noch die Perinatalperiode. Prä- und intrapartale Infektionen, schwere protrahierte Hypoxien beispielsweise durch vorzeitige Plazentalösung oder stark verzögerten Geburtsvorgang, intra- oder postpartal entstehende Hirnblutungen, das postnatale Atemnotsyndrom und geburtstraumatische Schäden bilden das Hauptkontingent geburtsbedingter Komplikationen.
So ist verständlich, dass sich im Bereich der Kinderheilkunde mehr als ein Drittel der bei der Schlichtungsstelle eingehenden Fälle auf diesen Lebensabschnitt bezieht. Viele Eltern vermuten primär bei Erkennung von Schäden bei ihren Kindern, dass ärztliche Fehler die Ursache sein könnten. Hierbei richten sich die Vorwürfe meist in gleicher Weise gegen Geburtshelfer und die weiter betreuenden Kinderärzte. Tatsächlich entstehen nicht selten infolge mangelnder Sorgfalt in Diagnostik, Therapie und Betreuung im Prinzip vermeidbare schwere, oft irreversible Schäden.
Bei dem heute dargestellten Fall führte eine Reihe von konsekutiven Fehlern auf allen postnatalen Betreuungsebenen zu einer hochgradigen Schädigung des Kindes. Bei entsprechender Sorgfalt, Beachtung allgemein anerkannter Grundregeln bei der Betreuung Neugeborener, besserer klinischer Kenntnis und Organisation der Versorgung wäre mit großer Wahrscheinlichkeit kein oder nur ein geringer Schaden eingetreten.
Kasuistik
Acht Tage nach dem errechneten Geburtstermin wird eine 36 Jahre alte zweitgebärende Mutter mit kräftigen Wehen und fast vollständigem Muttermund frühmorgens in einer Entbindungsklinik aufgenommen. Kurz nach Beginn der sofort eingeleiteten CTG-Aufzeichnungen kommt es während einer Wehe zu einem Abfall der kindlichen Herzfrequenz auf 60 pro Minute. Auch zwischen den nachfolgenden Wehen ist keine sichere Erholung der Herztöne erkennbar, die zwischen 70 und 90 pro Minute liegen. Bereits 13 Minuten nach stationärer Aufnahme erfolgt die Geburt eines mit einem Gewicht von 4230 g schweren makrosomen Kindes. Die Apgar-Werte sollen 9/10/10 betragen haben, der Nabelarterien-pH lag allerdings bei 7,12. Unmittelbar postpartum habe das Kind an der Brust gut gesaugt.
Im Alter von 3 Stunden wurde aus nicht genannten Gründen eine Blutzuckerbestimmung vorgenommen, die einen Wert von 27 mg/dl ergab. Daraufhin habe das Neugeborene (N.G.) Dextroselösung zu trinken bekommen, wobei jedoch weder die Menge noch die Konzentration bekannt sind. Blutzuckerkontrollen eine ½ und 2 ½ Stunden nach Füttern von Dextroselösungen ergaben Blutzuckerwerte von 42 bzw. 54 mg/dl. Da primär eine ambulante Geburt vereinbart gewesen sein soll, worüber allerdings keine Aufzeichnungen vorliegen, wurden Mutter und Kind 7 Stunden nach der Geburt, eine Stunde nach der letzten Blutzuckerkontrolle, aus dem Krankenhaus entlassen. Das Neugeborene war nicht kinderärztlich untersucht worden, noch im Hinblick auf die niedrigen Blutzuckerwerte und die Makrosomie ein pädiatrischer Rat eingeholt worden. Ein bei der Entlassung der Mutter ausgehändigtes Merkblatt enthält außer einer Erklärung zur Neugeborenengelbsucht und Hinweisen auf die üblichen neonatalen Untersuchungen und Maßnahmen keine Angaben zu anderen möglichen Problemen in den ersten Lebenstagen.
Die weitere ambulante Betreuung von Mutter und Kind wurde vereinbarungsgemäß von einer freipraktizierenden Hebamme übernommen, deren erster Besuch ca. 2 – 3 Stunden nach der Krankenhausentlassung stattfand. Entgegen der Aussage der Mutter, dass ihr Kind zu diesem Zeitpunkt einen feuchten rote Kopf und nasse kalte Hände gehabt habe, wird von der Hebamme keine Besonderheit festgestellt. Sie empfiehlt, weiter anzulegen und zusätzlich Tee zu geben, wobei auf 150 ml ein Teelöffel Traubenzucker zugefügt werden solle (ca. 3 %). Am Abend sei das Kind sehr unruhig gewesen, habe hektisch geatmet und einen Teil des Tees wieder ausgespuckt. Beim nächsten Besuch der Hebamme am folgenden Nachmittag wird ein zwar sehr unruhiges aber gut trinkendes N.G. beschrieben. Sie verabreichte eine homöopathisches Beruhigungsmittel und habe Ruhe für das Kind, aber weiteres häufiges Stillen empfohlen. Auf die gezielte Frage der Mutter, ob die Symptome möglicherweise von einer Unterzuckerung herrührten, sei dies seitens der Hebamme verneint worden. Am Abend und in der Nacht sei das Kind sehr ruhig gewesen. Wegen der Empfehlung der Hebamme, dem Kind viel Ruhe zu geben, habe es die Mutter weiter schlafen lassen. Beim ersten Stillversuch morgens gegen 6.00 Uhr habe das Kind nicht getrunken, was die Mutter telefonisch der Hebamme über Anrufbeantworter mitteilte. Als sich die Situation auch 2 Stunden später nicht gebessert hatte und ihr Kind „wie tot“ ausgesehen habe, fuhr die Mutter mit ihm in eine nahegelegene Kinderklinik.
Das Kind war jetzt 41 Stunden alt. Dort habe es gegen 8.30 Uhr zunächst eine längere Diskussion mit der Aufnahmeschwester gegeben über die Indikation zur Vorstellung, der ein Besuch beim niedergelassenen Kinderarzt vorausgehen müsse. Als die Mutter auf ärztlicher Untersuchung bestand, sei eine ½ Stunde später eine Ärztin im Praktikum erschienen, die das Kind zunächst allerdings nicht untersuchte, sondern erneut die Berechtigung der ambulanten Vorstellung in Frage stellte. Schließlich sei erst gegen 10.00 Uhr die Aufnahme erfolgt und eine Blutzuckeruntersuchung veranlaßt worden, die einen Wert von 18 mg/dl ergab. Die Mutter hatte kurz zuvor auf Aufforderung der Aufnahmeschwester noch einmal einen, allerdings wenig erfolgreichen, Stillversuch unternommen. Eine Blutzuckerkontrolle eine ½ Stunde nach Gewinnung des ersten Werts ergab 20 mg/dl und im erstmalig erhobenen Säuren-Basenstatus zeigte sich eine kombinierte respiratorisch-metabolische Azidose mit einem pH-Wert von 7,24. Konsequenzen daraus wurden allerdings erst etwa 40 Minuten später gezogen: Es wurde der Versuch unternommen, eine i.v. Infusion anzulegen, wobei es zu einem Atem- und Herzstillstand kam, der durch ein anästhesiologisches Reanimationsteam schnell behoben worden sei. Ein kurz zuvor bestimmter Säuren-Basenstatus hatte eine Verstärkung der Azidose ergeben.
Bis zu diesem Zeitpunkt fehlt in den schriftlichen Unterlagen jede Dokumentation, so dass davon auszugehen ist, dass auch primär keine Anamneseerhebung und Untersuchung stattgefunden hat. Nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen indiziert die Nichtdokumentation einer dokumentationspflichtigen Maßnahme deren Unterlassen. Erste Eintragungen über Vitalparameter finden sich erst in den Überwachungsbögen der Intensivstation, auf der das Kind nach der Reanimation aufgenommen wurde. 2 bis 3 Stunden nach dem Zwischenfall traten erstmalig fokale Krämpfe auf, die zunächst unter Antikonvulsiva verschwanden, sich im weiteren Krankheitsverlauf jedoch verstärkt zeigten und nur durch hohe Dosen von Phenobarbital zu unterdrücken waren. Während der 8 bis 9 Stunden nach der Reanimation schwankten die Blutzuckerwerte zwischen 1 mg/dl und 52 mg/dl, wobei die Spiegel überwiegend unter 40 mg/dl lagen, obwohl die i.v. Dextrosezufuhr sukzessive gesteigert wurde. Ausgedehnte Laboruntersuchungen konnten angeborene Stoffwechselstörungen als Ursache der protrahierten Hypoglykämie ausschließen. Allerdings wurden mehrfach während der ersten beiden Lebenswochen deutlich erhöhte Insulinspiegel gemessen. Weitere Untersuchungen im Verlauf zeigten das Bild eines beidseitigen hämorrhagischen Hinterlappeninfarkts mit begleitenden Blutungsherden und eine Hirnatrophie. Die sich daraus entwickelnde schwere Encephalopathie führte zu einer starken Beeinträchtigung der psychomotorischen Entwicklung des Kindes, bei dem eine schwer behandelbare Fokalepilepsie weiter bestand.
Die Eltern erhoben Vorwürfe gegen die Geburtshelfer, die Hebamme und die Kinderklinik, die bei der Betreuung des Kindes und der Beratung der Mutter nicht sach- und fachgerecht gehandelt hätten und deshalb gemeinsam verantwortlich seien für die schweren Residualschäden bei ihrem Kind.
Das externe Gutachten
Es wird ausgeführt, dass der Geburtsverlauf und die anschließend bei dem Kind erhobenen Befunde mit einer Reihe potentieller Risiken belastet gewesen seien:
- Unklarheiten über die Ereignisse vor der Krankenhausaufnahme, z.B. Zeitpunkt des Blasensprungs und Zustand des Kindes.
- Langanhaltende Dezelerationen während der letzten Geburtsphase und eine mäßig starke Azidose.
- Eine Makrosomie und ein stark erniedrigter Blutzuckerwert im Alter von 3 Stunden.
Diese Risiken hätten konsequenterweise zu einer längeren klinischen Beobachtung Anlass geben müssen, wenn auch eine ambulante Geburt geplant gewesen sei. Postnatal sich ergebende neue Fakten hätten eine Änderung des Plans veranlassen müssen, zumal die Mutter ein längeres Verbleiben ausdrücklich akzeptiert hatte, wenn es die Situation erfordere.
Bezüglich der Tätigkeit der Hebamme wird kritisiert, dass sie trotz Kenntnis der postpartalen Hypoglykämie die auffälligen Symptome bei dem Kind, wie Unruhe, hektische Atmung, Schwitzen, Apathie und Trinkfaulheit nicht als Anlaß betrachtete, kinderärztlichen Rat einzuholen, sondern durch eigenmächtige Gabe von Beruhigungsmitteln eine zusätzliche Gefahr für das Kind heraufbeschworen habe.
Schwächen werden auch bei der stationären Aufnahme und der weiteren Diagnostik und Behandlung in dem in Anspruch genommenen Kinderkrankenhaus konstatiert. Die Aufnahme des offenbar schwerkranken, vital gefährdeten NG erfolgte mit einer erheblichen zeitlichen Verzögerung, wobei primär offenbar keine Anamnese und Befunderhebung vorgenommen wurde und man die dringend erforderlichen einfachen Laboruntersuchungen erst etwa 1,5 Stunden nach Vorstellung einleitete. Neben dem sich anschließenden weiteren therapielosen Intervall von 30 bis 45 Minuten mit der Folge einer Verstärkung der schon bestehenden Azidose wird vor allem auch als fehlerhaft betrachtet, dass nach dem Atem- und Herzstillstand weitere zwei Stunden vergingen, bis man auf die Hypoglykämie mit adäquater Glukosezufuhr reagiert habe. Mehrere Ursachen führten nach Meinung des Gutachters zu dem ungünstigen Krankheitsverlauf: Unzureichende Organisation im Bereich der Krankenhausaufnahme, mangelhafte neonatologische Kenntnisse der in der Aufnahme offenbar eigenverantwortlich eingesetzten Ärztin im Praktikum, die offensichtlich in dieser Situation überfordert war und schließlich eine zum Teil dadurch, zum Teil aber auch durch vorwerfbare Verkennung der Stoffwechselentgleisung verzögerte Einleitung einer angemessenen Behandlung, vor allem also einer adäquaten Glukosezufuhr. Darüber hinaus wird auf gravierende Dokumentationsmängel hingewiesen.
Zum Gutachten wurde nur von Seiten der Kinderklinik Stellung genommen und ausgeführt, dass bei der Vorstellung des Kindes ohne Einweisungsschein nicht habe erkannt werden können, dass ein Notfall vorliege und ferner, dass die Verzögerung einer adäquaten Behandlung bei einer lange bestehenden Hypoglykämie um drei Stunden nur eine kurze Phase gewesen sei, die für den Ausgang ohne wesentliche Bedeutung sei.
Entscheidung der Schlichtungsstelle
Auf allen drei Betreuungs- bzw. Behandlungsebenen wird entsprechend den Ausführungen des Gutachters fehlerhaftes Vorgehen bestätigt. Die Entbindungsklinik hatte das NG ungeachtet der primär bestehenden Hypoglykämie und Makrosomie sieben Stunden postpartum nach Hause entlassen und darüberhinaus noch versäumt, die Mutter über die Symptome und potentiellen Risiken einer protrahierten Unterzuckerung zu informieren.
Die Hebamme hatte in Kenntnis der niedrigen Blutzuckerwerte des NG zwar zusätzliche Glukosegabe empfohlen, jedoch in einer weitaus zu niedrigen Konzentration und hatte es ferner trotz auffälliger Symptome bei dem Kind unterlassen, einen Kinderarzt hinzuzuziehen.
Wegen mangelhafter Organisation und unzureichender ärztlicher Kenntnis sowie fehlender Untersuchungen war die Erkennung und Behandlung der vitalen Bedrohung des NG in der Kinderklinik nur mit erheblicher Verzögerung in Gang gekommen, so dass im Zusammenhang mit der Hypoglykämie und Azidose ein Atem- und Herzstillstand eintrat. Dadurch entstand trotz schneller Reanimation eine schwere dauerhafte neurologische Schädigung bei dem Kind.
Die Analyse des Verlaufs macht es sehr wahrscheinlich, dass der ungünstige Ausgang bei sachgerechtem Handeln auf jeder der drei Betreuungsebenen hätte verhindert, zumindest erheblich verringert werden können. Insofern sieht die Schlichtungsstelle abstrakt eine gleichmäßige Verteilung der Mitverursachungsanteile auf die drei Beteiligten.